Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie haben unser Land in einen Ausnahmezustand versetzt – in einen Zustand, in dem viele der normalen Regeln des Zusammenlebens nicht mehr gelten und verfassungsrechtlich garantierte Rechte suspendiert sind. Die Fortbewegungsfreiheit und die Freiheit der Wahl des Aufenthaltsorts sind massiv beschränkt worden. Die Ausübung der Berufsfreiheit wird Millionen von Geschäftsleuten, Handwerkern, Gastwirten, Hoteliers, Musikern und anderen Künstlern unmöglich gemacht. Schüler und Studenten können ihr Recht auf Bildung nur noch sehr eingeschränkt wahrnehmen. Die Religionsfreiheit kann nur noch zu Hause oder über die Funkmedien wahrgenommen werden. Die Versammlungsfreiheit ist vollständig suspendiert.

Davon ist auch die Betätigungsfreiheit der politischen Parteien betroffen. Auch alle anderen Aktivitäten, die jetzt zum Corona-Schutz verboten sind, sind grundrechtlich geschützt, nämlich durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (allgemeine Handlungsfreiheit). Das gilt insbesondere für die Einschränkung sozialer Kontakte. Die Aufzählung der Freiheitsbeschränkungen ist nicht vollzählig. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hat es noch nie eine derart weitgehende kollektive Einschränkung von Grundrechten gegeben. Innerhalb weniger Wochen wurde aus einem Gemeinwesen, das auf seine Freiheitlichkeit stolz ist, ein Staat, der von fundamentalen Freiheiten kaum etwas übrig lässt, ein Staat, der die individuelle Freiheit einem kollektiven Ziel in einem Maße unterordnet, das man in demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnungen sonst nicht kennt.

Kann all das mit dem Grundgesetz vereinbar sein, mit der Verfassung, die die individuelle Freiheit schützt wie keine andere Verfassung in der deutschen Geschichte zuvor? Liegt ein Notstand vor, der einen Shutdown fundamentaler bürgerlicher Freiheitsrechte rechtfertigt? Kennt Not verfassungsrechtlich kein Gebot?

Aus Sicht des Grundgesetzes nicht. Sicher – es gibt Situationen, in denen die Regeln des Normalfalls nicht gelten können, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Aber das Grundgesetz versucht, den Notstand rechtlich einzufangen und stellt besondere rechtliche Regeln für den Ausnahmefall zur Verfügung. Der Notstand entbindet die Staatsorgane nicht von der Beachtung des Rechts. Auch im Notstand gilt die Verfassung, wenn auch mit modifizierten Regeln. Allerdings ist die Corona-Krise kein Notstand im verfassungsrechtlichen Sinne – kein Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt (Verteidigungsfall), kein Putsch- oder Revolutionsversuch (innerer Notstand). Als einzige Notstandvorschrift, die hier Anwendung finden könnte, kommt Artikel 35 in Betracht, der bei Naturkatastrophen, wenn erforderlich, Amtshilfe auch durch die Bundeswehr erlaubt. Aber zu Grundrechtseinschränkungen ermächtigt diese Vorschrift nicht.

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Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau.

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