Corona und das Grundgesetz

Vor Kurzem war zu hören, dass der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gegenüber den Fraktionsspitzen des Bundestages im Hinblick auf das Corona-Virus über eine Änderung des Grundgesetzes nachgedacht hat.

Der folgende Beitrag soll kurz die geltende Verfassungs- und Rechtslage für den Notstandsfall darstellen, in einem zweiten Teil die Frage erörtern, welche Änderungen von Schäuble anscheinend erwogen werden und in einem dritten Teil besprechen, wie die weitere Entwicklung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist.

1.

Die Notstandgesetze wurden im Sommer 1968 in der Zeit der damaligen Großen Koalition vom Bundestag und Bundesrat mit jeweils Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen.

Historisch betrachtet erstaunt es, dass erst zu einem so späten Zeitpunkt Regeln für den Fall eines staatlichen Notstands in die Verfassung aufgenommen wurden. Denn eigentlich hätte eine solche Regelung bereits 1949 nahe gelegen, als das Grundgesetz verabschiedet wurde und als tatsächlich echte Not in Deutschland herrschte: In den Großstädten und Ballungsräumen fehlte 1949, nur vier Jahre nach Kriegsende, Wohnraum, der durch die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs zerstört worden war Die Wohnraumsituation wurde noch dadurch erheblich verschärft, dass Millionen von Flüchtlingen aus den Ostgebieten zusätzliche Wohnungen benötigten. Die Lage war dermaßen angespannt, dass eine staatlich reglementierte Wohnraumbewirtschaftung stattfand (was sich heutige Zeitgenossen kaum vorstellen können). Viele Konsumgüter gab es nur auf Bezugsschein. Die Wirtschaft lag darnieder. Hunderttausende von deutschen Soldaten saßen noch in Kriegsgefangenschaft, insbesondere in Sowjet-Russland. Auch Krankheiten wie Tuberkulose waren weit verbreitet.

Gegen eine Implementierung von Notstandsregeln sprach hingegen die schlechte Erfahrung, die man mit den Notstandsverordnungen der Weimarer Republik gemacht hatte. Die Notstandsverordnungen der 1930er Jahre hatten letztlich einen „Sarg-Nagel“ für die Weimarer Republik dargestellt. Beispielsweise hatte die sogenannte Reichtstagsbrandverordnung der Regierung Hitler die Möglichkeit gegeben, Grundrechte einzuschränken und missliebige Personen, beispielsweise Kommunisten, zu verhaften und einzusperren (in sogenannte „Schutzhaft“. Das geschah wohlgemerkt noch vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag!). Ein gehöriges Misstrauen im Parlamentarischen Rat gegenüber Notstandsregeln war daher nur allzu verständlich.

Da sich 1949 im Parlamentarischen Rat letztlich keine Mehrheit für eine Notstandsverfassung fand, wurde eine Regelung des Notstands nicht in das Grundgesetz aufgenommen, obwohl es bereits damals entsprechende Überlegungen der Verfassungsrechtler gab (Beispielsweise enthielt der Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee im August 1948 eine umfassende Notstandsverfassung, die sich an die der Weimarer Reichsverfassung von 1919 anlehnte).

Die Bundesrepublik konnte sich in den folgenden Jahren erfolgreich als Demokratie und Rechtsstaat etablieren. Im Zuge des Kalten Krieges (z.B. Ausbruch des Koreakrieges 1950, Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953, Eintritt der Bundesrepublik in die Nato 1955 zusammen mit der Wiederbewaffnung, Mauerbau 1961, Kubakrise 1962) und aufgrund der zunehmenden Proteste und Demonstrationen in der Bundesrepublik, insbesondere von Studenten und jungen Leuten, setzte sich immer mehr, auch bei der SPD, der Gedanke durch, dass man eine Regelung für Notstandsfälle im Grundgesetz aufnehmen müsse. Glücklicherweise waren damals Männer wie Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Georg Leber, die den Stalinismus, den Nationalsozialismus und den Krieg – also echte Krisen – kennengelernt hatten, tonangebend in der SPD. So kam es, dass im Sommer 1968 die Notstandsgesetze – gegen Massenproteste, u.a. der sogenannten außerparlamentarischen Opposition APO – verabschiedet werden konnten, durch die das Grundgesetz für den Fall des inneren Notstandes, für den Verteidigungsfall und für den Katastrophenfall in vielen Punkten geändert wurde. Eine vollständige Aufzählung aller Änderungen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Daher seien nur die wichtigsten Änderungen erwähnt:

Artikel 10 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) wurde dahingehend ergänzt, dass aufgrund eines Gesetzes in dieses Grundrecht eingegriffen werden darf. (Das sogenannte G 10 Gesetz vom 01.11.1968 führte diesen Eingriff durch. Seitdem darf in Deutschland aufgrund von Gesetzen unter engen Voraussetzungen abgehört und mitgelesen werden).

In Artikel 11 GG (Recht auf Freizügigkeit) wurde ergänzt, dass zur Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr (!), Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen ein Eingriff in dieses Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig ist.

Diese Regelung spielt gerade im Augenblick – in Zeiten von Corona – eine erhebliche Rolle. Beispielsweise enthält das Infektionsschutzgesetz schon jetzt Regelungen über die Quarantäne für bestimmte Personen bei bestimmten übertragbaren Krankheiten. Es steht außer Frage, dass die Bekämpfung des Corona-Virus als Bekämpfung einer Seuchengefahr im Sinne von Art. 11 Abs. 2 GG anzusehen ist mit der Folge, dass der Gesetzgeber die Freizügigkeit in noch weiterem Maße einschränken könnte, als er es bisher schon getan hat, beispielsweise durch eine Ausgangssperre oder durch die Anordnung einer totalen Residenzpflicht, dass sich jeder Einwohner in der Stadt oder in dem Kreis aufzuhalten hat, in der bzw. in dem er mit seinem ersten Wohnsitz gemeldet ist oder auch durch ein zeitlich befristetes Ausreise-Verbot für alle Einwohner der Bundesrepublik.

In Artikel 81 Grundgesetz wurde der Gesetzgebungsnotstand geregelt, wenn nämlich ein Bundeskanzler im Bundestag keine Mehrheit für einen als dringlich bezeichneten Gesetzentwurf erhält, aber weiter im Amt bleiben und den Bundestag nicht auflösen möchte. Mit Zustimmung des Bundesrates kann dann sogar das Gesetz ohne mehrheitliche Zustimmung des Bundestages in Kraft treten (Art. 81 Abs. 2 GG). Diese Regelung war bislang nur graue Theorie und allenfalls gut dafür, um Jurastudenten oder Referendare in ihren Staatsexamina zu quälen. Praktisch ist ein solcher Fall, dass ein amtierender Kanzler tatsächlich bei einer Gesetzesvorlage keine Mehrheit mehr im Parlament fand, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgekommen. (Auch bei der Vertrauensfrage von Helmut Kohl 1983 handelte es sich nicht um einen Gesetzgebungsnotstand im Sinne von Art. 81 GG, sondern um eine reine Taktik, um Neuwahlen herbeizuführen. Tatsächlich hatte Kohl, nachdem er durch ein konstruktives Misstrauensvotum gemäß Art. 67 GG im Jahre 1982 Bundeskanzler geworden war, die Mehrheit des Hauses hinter sich. Er stellte 1983 die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG und schlug dann, als die Mehrheit aus CDU und FDP verabredungsgemäß das Vertrauen nicht ausgesprochen hatte, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vor, was dieser auch tat. So kam es zu den Neuwahlen).

Wenn man aber die aktuellen Geschehnisse in Thüringen bedenkt und die Umfragen für die nächste Bundestagswahl liest, ist es wohl zumindest nicht mehr völlig ausgeschlossen, dass unser Land in absehbarer Zeit unregierbar werden könnte und eine Bundesregierung eines Tages vielleicht tatsächlich auf den Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG zurückgreifen müsste.

In Artikel 91 GG wurde die Amtshilfe zwischen den Polizeien der Länder und dem Bundesgrenzschutz deutlich ausgeweitet. Insbesondere wurde neu geregelt, dass im Extremfall, wenn ein Bundesland nicht zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage ist, die Bundesregierung (also nicht die entsprechende Landesregierung!) die Polizeikräfte dieses Landes oder auch anderer Bundesländer ihrer Weisung unterstellen und einsetzen darf. Wie man sieht, handelt es sich dabei um einen sehr weitreichenden Eingriff, durch den der Föderalismus in einem ganz wichtigen Punkt außer Kraft gesetzt wird, wenn die Bundesregierung die Polizeikräfte eines Landes befehligt und einsetzt. Auch ein solcher Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch niemals eingetreten. Völlig undenkbar ist aber auch das nicht mehr.

Wenn infolge der Corona-Krise nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern die Weltwirtschaft insgesamt zusammenbricht und es daraufhin zu Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten kommt, kann die Gefahr, dass es zu Plünderungen und örtlichen Aufständen kommt, nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Solche Aufstände müssten dann mit starken Polizeikräften, notfalls auch mit Waffengewalt, niedergeschlagen werden. An dieser Stelle soll aber keine Panik verbreitet werden. Es handelt sich lediglich um einen theoretisch denkbaren Fall, den der Gesetzgeber bei der Regelung des Notstandes im Grundgesetz berücksichtigt hat, der aber zur Zeit nicht aktuell ist. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist Gott sei dank sicher in Deutschland.

Schließlich wurde durch die Notstandsgesetzgebung auch der Verteidigungsfall geregelt

(Art. 115a ff. GG, also der Fall, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht). In diesem Zusammenhang sei besonders die Regelung über den sogenannten Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a GG) hervorgehoben:

Ist der Eintritt des Verteidigungsfalles festgestellt worden und stellt der Gemeinsame Ausschuss fest, dass dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder dass der Bundestag nicht beschlussfähig ist, so tritt der Gemeinsame Ausschuss gemäß Art. 115e Abs. 1 GG an die Stelle von Bundestag und Bundesrat und nimmt deren Rechte einheitlich wahr. Das bedeutet also die faktische Ausschaltung des Parlaments und eine einschneidende Verkürzung des Föderalismus.

Als Sicherheit gegen einen Missbrauch dieser Vorschrift wurde geregelt, dass das Grundgesetz nicht durch Gesetze des Gemeinsamen Ausschusses geändert werden darf (Art. 115e Abs. 2 GG) und dass sämtliche Gesetze und Rechtsverordnungen des Gemeinsamen Ausschusses automatisch spätestens sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles außer Kraft treten (Art. 115k Abs. 2 GG).

Nur zur Erinnerung: Alle diese unerfreulichen Dinge sind bereits jetzt geltendes Recht. Dazu bedarf es keiner Änderung des Grundgesetzes mehr.

 

2.

Die Gedanken, die sich Bundestagspräsident Wolfang Schäuble ausweislich einer Meldung des Nachrichtenmagazins Spiegel und ausweislich einer dpa-Meldung über eine Änderung des Grundgesetzes macht, kreisen um die Frage, was geschehen soll, wenn das Corona-Virus dem rechtzeitigen Zusammentritt oder der Beschlussfähigkeit des Bundestages über längere Zeit entgegen steht, weil beispielsweise die Abgeordneten schwer krank in Kliniken und Intensivstationen liegen oder weil im Bundestag bei über 700 Abgeordneten kein 2-Meter-Abstand zwischen den einzelnen Abgeordneten eingehalten werden kann oder weil die Abgeordneten vielleicht schlicht nicht mehr anreisen können.

Wenn der Bundestag wegen des Corona-Virus nicht mehr rechtzeitig zusammentreten kann oder deswegen nicht mehr beschlussfähig wird, steht die Bundesrepublik nach derzeitiger Rechtslage ohne funktionierendes Parlament dar. Die Corona-Epidemie ist zweifelsfrei kein Verteidigungsfall im Sinne des Grundgesetzes, so dass die Regeln über den Gemeinsamen Ausschuss nicht angewendet werden können. Eine Ergänzung im Grundgesetz, dass der Gemeinsame Ausschuss auch dann tätig werden kann, wenn dem Zusammentritt des Bundestages oder seiner Beschlussfähigkeit eine Seuche oder andere gewichtige Gründe entgegenstehen, wäre daher aus juristischer Sicht eine vernünftige Regelung.

Nebenbei bemerkt wird das auch eine interessante Frage für die Zeit nach 2038, wenn sämtliche Atom- und Kohlekraftwerke in Deutschland abgeschaltet sind und sich wahrscheinlich die Windkraft- und die Solarenergie als unzuverlässiger erweisen werden, als es die rot-grünen Glaubensbekenntnisse heute vorschreiben (nach dem alten bekannten Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf). Wenn Deutschland dann seinen ersten großen Blackout erlebt, glaube niemand daran, dass der öffentliche Nah- oder Fernverkehr oder auf Dauer noch der Individualverkehr in Deutschland funktionieren werden. Wenn dann die Abgeordneten gar nicht mehr zum Bundestag anreisen können (es soll ja noch Abgeordnete geben, die sich in ihrem Wahlkreis blicken lassen), wie soll dann das Parlament zusammentreten und beschlussfähig werden?

 

3.

Wie ist die weitere Entwicklung im Hinblick auf das Corona-Virus verfassungsrechtlich zu beurteilen?

Leider liegen bezüglich des Corona-Virus derzeit keinerlei wirklich verlässliche Zahlen vor. Wir wissen in medizinischer Sicht nicht genau, wie viele Menschen mit dem Virus infiziert wurden (die Untersuchungen sind äußerst lückenhaft, wie der Autor dieses Beitrages selbst feststellen musste), wir wissen nicht, wie aggressiv es ist und wir wissen nicht, wie viele Menschen deshalb schwer erkranken oder sterben werden.

Im Gegensatz dazu wissen wir in verfassungsrechtlicher Sicht aber beinahe alles über die jetzige Situation. Die derzeitigen Maßnahmen stellen erhebliche und schwerwiegende Eingriffe in eine Vielzahl von Grundrechten dar, beispielsweise in das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG: bei einer Ausgangssperre kann man sich nicht mehr frei bewegen, sondern ist in seiner Wohnung eingesperrt), in das Recht auf Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 GG: derzeit sind die meisten Gottesdienste in den meisten Bundesländern verboten), in das Recht auf Ehe und Familie (Art. 6 GG: Man kann seine Verwandten, die in Krankenhäusern, Altersheimen oder Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, nicht mehr besuchen. Auch Eheschließungen werden derzeit schwierig bis unmöglich), in das Recht auf Beschulung von Kindern (Art. 7 GG: Die Schulen wurden geschlossen), in das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG: derzeit sind wohl Versammlungen in den meisten Bundesländern verboten), in das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG: Freies Reisen im Inland und ins Ausland ist verboten), in das Recht auf freie Berufsausübung (Art. 12 GG: Viele Gewerbetreibende, insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, werden in die Insolvenz gehen, wenn die derzeitigen Verbote und Maßnahmen über längere Zeit weiter aufrecht erhalten werden), und mit dem zuletzt Genannten korrespondierend in das Recht auf Eigentum (Art. 14 GG), soweit es den Bestand des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs angeht.

Diese erheblichen und schwerwiegenden Eingriffe in eine Vielzahl von Grundrechten sind nur dann verfassungsgemäß, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsrang, auch wenn er nirgendwo ausdrücklich im Grundgesetz geregelt ist. Die juristisch spannenden Fragen lauten daher: Sind die derzeitigen Maßnahmen verhältnismäßig? In welchem, auch zeitlichen, Ausmaß sind bzw. bleiben die Maßnahmen verhältnismäßig?

Die erste Frage kann mit einem klaren Ja beantwortet werden. Die derzeitigen Maßnahmen sind im Moment verhältnismäßig. Das Corona-Virus stellt eine ernsthafte Gefahr dar, auch wenn, wie bereits erwähnt, bislang keine verlässlichen Zahlen vorliegen, ob Corona nun gefährlicher ist als eine gewöhnliche Grippewelle oder nicht.

Soweit hier eine Gefahren-Einschätzung vorgenommen werden muss, sind zwei Punkte in rechtlicher Hinsicht zu beachten, nämlich in Bezug auf die Person des Einschätzenden und in Bezug auf den Inhalt der Einschätzung:

Zum einen wird die juristisch maßgebliche Gefahren-Einschätzung nicht von irgendjemandem getroffen (Der Einzelne kann seine eigene Meinung haben. Eine solche Privatmeinung ist juristisch aber irrelevant), sondern von der Exekutiven, von der „vollziehenden Gewalt“, wie es im Grundgesetz formuliert wird. Im Klartext heißt das, dass die juristisch maßgebliche Gefahren-Einschätzung durch die Regierungschefs von Bund und Ländern vorgenommen wird, also durch den jeweiligen Bundeskanzler (der nach Art. 65 S. 1 GG die Richtlinien der Politik bestimmt) und durch die Ministerpräsidenten der Länder.

Zum anderen kann, soweit es den Inhalt der Einschätzung angeht, niemand erwarten, dass ein Bundeskanzler oder die Ministerpräsidenten Hellseher sind und bereits in der Gegenwart genau und exakt erkennen, was in der Zukunft geschehen wird. Aus diesem Grund wird von der Rechtsordnung dem jeweiligen Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten eine sogenannte Einschätzungs-Prärogative zugebilligt. Das bedeutet, dass die Regierungschefs einen Beurteilungsspielraum haben, wie sie eine Gefahr einschätzen und welche Maßnahmen sie für erforderlich halten. Solange sich die politisch Verantwortlichen dabei von Sachverständigen beraten lassen und Entscheidungen treffen, die zumindest von der Absicht geleitet werden, das Wohl des Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden (so ungefähr lautet der Amtseid des Bundespräsidenten gemäß Art. 56 GG), solange müssen deren Entscheidungen von jedermann befolgt und respektiert werden. Anders kann ein Staat nicht funktionieren. Demokratie ist keine Anarchie, in der jeder machen kann, was er will, sondern eine geordnete Herrschaftsform, in der Macht ausgeübt wird durch Personen, die vom Volk hierfür in Wahlen legitimiert wurden.

Die zweite Frage ist deutlich schwieriger zu beantworten. In welchem, auch zeitlichen, Ausmaß sind bzw. bleiben die Maßnahmen verhältnismäßig?

Bei aller Unklarheit ist eines gewiss: Die derzeitigen schwerwiegenden Maßnahmen können nicht über beliebig lange Zeit aufrechterhalten werden. Das wäre zweifelsfrei unverhältnismäßig. Es ist völlig klar: Jeder Verantwortliche, der die Schließung einer Schule anordnet oder das öffentliche Leben lahmlegt, muss sich Gedanken darüber machen, wann er die Schule wieder öffnet und wann er wieder das öffentliche Leben erwachen lässt.

Eine genaue zeitliche Grenze kann hier niemand ziehen. Auch insoweit haben Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten eine Einschätzungs-Prärogative. Bei der Abwägung der Frage, ob durch ein völliges Lahmlegen des öffentlichen Lebens die Ansteckung weiterer Personen über möglichst lange Zeit hinausgezögert werden soll, mit dem gegenteiligen Gesichtspunkt, dass ein längerfristiges Lahmlegen des gesamten Landes die Wirtschaft ruinieren wird, dass Tausende ihren Arbeitsplatz verlieren werden und dass große Vermögenswerte in Betrieben vernichtet werden, muss ein vernünftiges Augenmaß angewendet werden. Eine völlige Vernachlässigung der wirtschaftlichen Folgen für Gewerbetreibende, aber auch für das gesamte Land, wäre unverantwortlich. Das gilt um so mehr, als eventuell ohnehin etwa 70 Prozent der Bevölkerung das Virus über Kurz oder Lang bekommen werden. Solche Infektionszahlen sind bei echten Pandemien unvermeidlich. Die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen muss auch deshalb sehr genau im Auge behalten werden, weil man in den Diskussionen der letzten Jahre über die sogenannte Energiewende den Eindruck gewinnen konnte, dass es vielen Grünen und Gutmenschen völlig egal ist, ob in Zukunft noch ausreichend Energie in Deutschland selbst produziert wird und ob die deutsche Wirtschaft auf Dauer auf dem Weltmarkt noch konkurrenzfähig ist.

Unter Abwägung dieser Umstände scheint es nach jetziger Lage unumgänglich, dass die einschneidenden Maßnahmen, die wir zur Zeit erleben, spätestens nach zwei Monaten, also etwa zum 15. Mai wieder aufgehoben werden müssen, um noch als verhältnismäßig bezeichnet werden zu können.