El Hierro: Autark am Arsch. Ein Energiewendemärchen

Hauptsächlich ernsthafte Wanderer und Taucher zieht es auf das Eiland, das die Einheimischen – 6000 oder 7000 leben hier ständig – als „El culo del archipiélago“ bewitzeln, Arsch des Archipels. Arbeitsplätze sind rar, Industrien nicht existent. Was an Waren auf die Insel gelangt, sind meist die Ladenhüter von Teneriffa und Gran Canaria. Kein Geheimnis, dass Hierro nicht gerade ein Hotspot von Leistungsträgern ist. Wer was auf dem Kasten hat, verlässt El culo und macht sein Geld auf den großen Nachbarinseln oder gleich auf dem spanischen Festland.

Derart rückständig ist Hierro, dass es manchmal selbst Ausländer verblüfft, die hier schon lange wohnen. Frauen nehmen männliche Bekannte nicht einmal dann im Auto mit, wenn sie ihnen auf einsamer Landstraße begegnen – könnte Gerede geben. Besucher klatschen laut in die Hände, wenn sie eine Finca betreten. Damit Nachbarn sie wahrnehmen und wissen, dass die Ankömmlinge sich nicht heimlich zu fremden Frauen schleichen wollen. Das ist nicht bloß Folklore, das wird verdammt ernst genommen.

Die politischen Verhältnisse sind byzantinisch, beziehungsweise erdoganisch

Die politischen Verhältnisse sind byzantinisch, beziehungsweise erdoganisch. Wer öffentliche Aufträge oder (etwa als Kultur- oder Medienschaffender) Zuwendungen bekommen will, muss sich mit den Matadoren der Inselverwaltung gutstellen und sie kräftig loben. Kritiker des Cabildo werden ausgegrenzt und von der Gunstliste gestrichen. Das Kritisieren an und für sich finden die meisten Herreños sowieso unangemessen, was mit einer verbreiteten Verdruckstheit der Umgangsformen korrespondiert. Ein Inselsprichwort lautet: Wenn man den Mund geschlossen hält, kommen keine Fliegen hinein.

Und dann, ach, der Bürgerkrieg! Steckt noch nach 80 Jahren in den Köpfen vieler Insulaner. Es hat damals nicht wenige Verbrechen und Verfolgungen gegeben auf dem kleinen Hierro, die Insel war sehr Franco-affin. Wer solche Fälle recherchieren will, muss sich warm anziehen.

In einem Punkt aber hält Hierro einen Spitzenplatz – beim Abgreifen von Subventionen. Pro Insulanerkopf gerechnet, ist mehr EU-Geld in die Insel versenkt worden als in irgendeine andere Region. Allein die grotesk überdimensionierte Mole im Hafen La Estaca verschlang 20 Millionen Euro aus der EU-Regionalförderung. Benötigt wird die Mole nicht. Großfähren oder Kreuzfahrtgiganten steuern Hierro nicht an. Warum auch?

Fabelhaft ausgebaut (selbstredend mit EU-Förderung) und prima in Schuss gehalten ist auch das Straßennetz, bis in entlegene Bergregionen. Serpentinenfahren auf Hierro macht richtig Spaß, denn es kommt einem selten jemand entgegen. Auch andere Großprojekte zeichnen sich durch hohe Kosten im Verbund mit kompletter Sinnfreiheit aus. Etwa das in eine feuchtkalte Höhe von 900 Meter gesetzte „Kongresszentrum“, wo leider so gut wie nie Kongresse stattfinden. Ein Meerwasserschwimmbad gammelte viele Jahre unbesucht vor sich hin.

Hierro ist der Irrsinn der europäischen Subventionspolitik in einer Nussschale

Sicher, auch andere Regionen sind nicht faul, wenn es darum geht, das Geld europäischer Steuerzahler für lachhafte „Infrastrukturmaßnahmen“ zu verbrennen – siehe die etlichen Millionen, welche der Bau von doppelspurigen, kaum benutzten Radwegen auf der Starkwindinsel Fuerteventura verschlang. Aber auf Hierro ist der Irrsinn der europäischen Subventionspolitik in der Nussschale zu besichtigen.

Das Prinzip geht so: Eine lokale Größe, die zum Beispiel an einer Asphaltfabrik beteiligt ist, welche wiederum mehrheitlich einem Verwandten der besagten Größe gehört, initiiert zum Beispiel einen Antrag auf Mitfinanzierung breiter, straßenrennentauglicher Straßen in einer einsamen Gegend, wo allenfalls geländegängige Forstfahrzeuge etwas zu suchen haben. Im fernen Brüssel wird das fadenscheinige Ansinnen anstandslos abgenickt. Das Asphaltwerk dankt.

Vor ein paar Jahren machte Hierro mit einem Projekt Schlagzeilen, dessen Kühnheit höchstens mit jener von Kolumbus vergleichbar schien, der 1493 von Hierro zu seiner zweiten Entdeckungstour in die neue Welt aufgebrochen war. Die Vision: Der Arsch des Archipels wollte als erste Insel „energieautark“ werden. Denn, nicht wahr, es weht ja oft kräftig über die Bergrücken! Wahrzeichen von Hierro ist ein vom Wind niedergedrückter, sehr fotogener Wacholderbaum nahe der Ermita des los Reyes. Was liegt da näher, als den Wind zu „ernten“?

Anstelle des alten Dieselkraftwerks in Puerto de la Estaca sollten künftig fünf Windräder auf dem Gipfel eines erloschenen Vulkans die Stromversorgung übernehmen. Überschüssiger Strom sollte genutzt werden, um Wasser in ein auf dem Vulkan errichtetes Pumpspeicher-Kraftwerk zu befördern. Damit, hoffte man, würden die Flauten überbrückt werden, die auch mitten im Atlantik immer wieder vorkommen.

Kritische Denkströme beherzt ausgeknipst

Das kurz „Gorona“ genannte Projekt, zu 60 Prozent im Besitz der Inselverwaltung, wurde mit Komponenten aus Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz gewuppt. Kosten: 85 Millionen Euro. Die Hälfte davon deckten staatliche Subventionen ab, für die andere Hälfte verschuldete sich die Gemeinde. Kleingeld, wenn man bedenkt, dass Hierro praktisch dem gesamten Planeten als „energetische Referenz“ dienen würde, wie es ein Betreiberprospekt versprach.

Das richtungweisende Projekt war noch nicht eingeweiht, da kugelten sich bereits die üblichen Medienjungs und -deerns vor Begeisterung. „El Hierro wird Ökomodell“, jubelte „Geo“ im August 2013. Als die Windkraft-Pumpspeicher-Kombi im Juni 2014 ans Netz ging, meldete Wikipedia prompt, der Strom auf der Insel würde nunmehr „vollständig von Windkraft erzeugt.“ Ebenso affirmativ wunschdachte die „Neue Zürcher Zeitung“: „Die kanarische Insel El Hierro ist als erstes Eiland der Welt energieautark“.  

Durch die Stilllegung des Stinkekraftwerks würden jährlich 18.700 Tonnen CO2 eingespart, 100 Tonnen Schwefeloxid und 400 Tonnen Stickoxid vermieden. Die Stromversorgung per Wind und Wasser werde zudem 23 Prozent günstiger als bisher sein, der Strompreis wohl sinken. Hinter diesen und geistesähnlichen Arien, deren Autoren offenbar ihre kritischen Denkströme beherzt ausgeknipst hatten, wollten auch die Öffis nicht zurückstehen. „El Hierro – Visionäre am Ende der Welt“ betitelte „Arte“ noch Ende 2015 ein euphorisches Feature, das dem Sender alsbald auf die Füße fallen sollte.

Denn nach einem Betriebsjahr stand zwar die gute Nachricht fest: Der Traum, den Strombedarf der Insel zu 100 Prozent nachhaltig zu erzeugen, hatte sich erfüllt. „Kühnste Erwartungen“, jauchzte die Betreiberfirma Gorona, seien "übertroffen worden“. Die schlechte Nachricht: Das mit den 100 Prozent war nur an einem einzigen Tag des Jahres 2015 der Fall gewesen, für ganze zwei Stunden. In der ersten Hälfte des Jahres trug die „saubere“ Energie nur zu 30 Prozent zur Stromversorgung bei, in späteren Monaten immerhin zwischen 49 und 55 Prozent.

Ein um den Faktor 200 zu kleines Pumpspeicherbecken

Die Erfolgsmeldungen stammten allerdings sämtlich von der Betreibergesellschaft. Diese zeichne sich durch hohe „Kreativität“ bei der Interpretation von Fakten aus, spottete der Blog ruhrkultour.de über „das bittere Ende eines Energiewende-Märchens". Nicht wenige Insulaner – darunter zahlreiche auf der Insel residierende Deutsche – bezweifeln hartleibig, dass Verlautbarungen der windigen Betreibergesellschaft Ähnlichkeiten mit der Realität aufweisen.

Während der treue alte schmutzige Diesel unten am Hafen weiterhämmerte – notwendigerweise permanent, um das Netz allzeit stabil zu halten – war der Katzenjammer enorm. Langsam wurde klar, was – neben all dem Schöngerede und Selbstbetrug – der Kardinalfehler des frivolen Vorhabens war, ausgerechnet inmitten eines Unesco-Biosphärenreservats fünf potthässliche Windräder sowie ein mit Wasser gefülltes Becken aufzustellen.

Dieses 150.000-Kubikmeter-Becken, das bei Windarmut hydroelektrisch erzeugte Energie zuliefern sollte, hätte nach neueren Berechnungen mindestens fünfmal, nach anderen Kalkulationen zwanzigmal so groß sein müssen, um längere Flauten überbrücken zu können. Wikipedia schreibt in einem aktualisierten Eintrag über Hierro gar, für eine autarke Stromversorgung sei ein 200fach größerer Wasserspeicher als der Bestehende notwendig.

Das Projekt Autarkie liegt in der Grütze, Geld futsch, Vorschusslorbeeren verwelkt

Wie auch immer: Pools von derlei Ausmaßen sind nicht nur immens teuer, sondern in einer Erdbebenregion hochgefährlich. Katastrophale Erfahrungen mit einem geborstenen Großspeicher waren auf La Palma  schon 2011 gemacht worden. Der Speicher von Barlovento wird nach kostspieliger Reparatur vorsichtshalber nur mehr zu Hälfte gefüllt, ein Flop wie aus dem betriebswirtschaftlichen Lehrbuch.

Was also können die gebeutelten Herreños daraus lernen? Das Projekt Autarkie liegt in der Grütze, klar. Geld futsch, Vorschusslorbeeren verwelkt. Nix mit den erträumten Delegationen von anderen Inseln, die auf Hierro hätten erfahren können, wie die energetische Zukunft aussieht. Und auch keine herzensgrünen Reporter aus Deutschland mehr. Keine öffentlich-rechtlichen Fernsehteams mit gusseiserner Ökoagenda im Gepäck.

Auch ist keine Rede mehr vom dem ulkigen, fast merkelesken Plan, sämtliche Autos der Insulaner bis 2020 durch E-Mobile zu ersetzen und damit zum „ersten emissionsfreien Ort der Welt“ (so weiland die enthusiasmierte „NZZ“) aufzusteigen. Der plötzliche Energiereichtum der armen Leute von Hierro gehört wohl zu den Visionen, deren Inhabern Helmut Schmidt einen Arztbesuch empfahl.

Was Hierro tun könnte, um den Kladderadatsch wenigstens abzumildern? Einfach mit inseleigenen Pfunden wuchern! Aus dem anfangs erwähnten, fast immer verwaisten Kongresszentrum im Hochland könnte sich ein Kompetenzzentrum entwickeln, das rund ums Jahr Fachseminare anbieten würde. Etwa für Entscheidungsträger aus Brüssels Bürokratie, Sparte Regionenförderung. Oder für Politiker, die vor Ort studieren möchten, was bei einer „Energiewende“ hinten so rauskommt. Oder für Journos, die auf dem herbschönen Hierro lernen könnten, in Sachen EU und Energiewende unvoreingenommen zu recherchieren.

Mögliche Themen der Tagungen:  „Gauner im grünen Zwirn – woran man Ökoschwindler erkennt“. „Nepper, Schlepper, Subventionsfänger – wie örtliche Seilschaften Jagd auf EU-Fördermillionen machen.“ Oder einfach: „Größenwahn am Arsch der Welt. Am Beispiel El Hierro“.

Der Beitrag erschien zuerst bei ACHGUT hier