FAZ 02.08.2016: [1] Dezentrale Stromnetze New York probt die Abschaffung der Energieversorger

Im New Yorker Stadtteil Gowanus (Anm.: in Brooklyn) hat im Frühjahr ein Experiment begonnen. Es könnte die Energiewirtschaft revolutionieren. Allerdings gibt es noch viele unbeantwortete Fragen.

Längs der President Street versorgen Bürger von der einen Seite der angegrauten Reihenhäuser die Bewohner der anderen Seite seit April mit selbsterzeugtem Strom. Der kommt von den Solarpanels auf ihren Dächern. So weit ist das alles nicht revolutionär.

Bei Stromversorgern klingeln die Alarmglocken

Neu an dem „Brooklyn Microgrid“ ist, dass sie auch Abrechnung und Bezahlung direkt untereinander abwickeln, ohne einen dazwischen geschalteten Versorger. „Der Mechanismus zeigt, wie die Zukunft eines dezentralen, in Nachbarschaften selbst verwalteten Stromnetzes aussehen könnte“, analysiert die Beratungsgesellschaft PWC. Was die Berater so nüchtern hinschreiben, lässt bei Stromversorgern die Alarmglocken klingen. Denn wer braucht ihre Dienste noch, wenn Verbraucher und Erzeuger im digitalisierten Strommarkt ihre Geschäfte dezentral und allein untereinander abwickeln?

An dem New Yorker Modell nehmen zwar nur zehn Haushalte teil, doch hat es sich schon weit herumgesprochen. Unlängst ließ sich die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) das Bürgerstromprojekt vor Ort erklären. Und im fernen Deutschland machen sich die Verbraucherzentralen schon Gedanken darüber, wer Gewinner und wer die Verlierer der nächsten Stufe der Digitalisierung sein werden.

Wenn eine Staatssekretärin sich die Mühe macht, über den Teich zu jetten um eine revolutionäre Erfindung, welche bereits 10 Haushalte versorgt persönlich anzusehen, muss schon etwas dahinter sein. Und Frau R. S.-Sutter ist zur Begutachtung von „Energie“ prädestiniert:

– Studium: Wirtschaft

– Mitgliedschaften: KLAR – Kein Leben mit atomaren Risiken, EUROSOLAR – Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien e.V.

Darstellung auf ihrer Homepage: Energiewende jetzt!

Die Energiewende von der derzeitigen Versorgung mit Atom und Kohle zu einer 100-Prozent-Versorgung aus Sonne und Wind ist dringend notwendig und auch innerhalb kurzer Zeit durchzusetzen. Die Kosten für Kohle und Atomkraft können mit der Zeit nur weiter steigen und hinzu kommen weitere Kosten für die Naturzerstörung und den Klimawandel in Milliardenhöhe. Die Kosten für erneuerbare Energien werden mit der Zeit immer weiter sinken: Denn bei erneuerbaren Energien entstehen nur Kosten für die Technik, die aber mit der voranschreitenden Massenfertigung und technologischen Innovationen immer weiter sinken werden.

… als eine Themen der Energieversorgung sicher vorurteilsfrei betrachtende Persönlichkeit mit dem nötigen Hintergrundwissen.

Die „Alarmglocken klingel-Erfindung“

Löst die Erfindung Probleme des EEG? Nachsehen zeigt: Um diese haben sich die „Erfinder“ nicht im Entferntesten gekümmert.

Die Erfindung besteht ausschließlich darin, dass Solaranlagen-Besitzer ihren Strom direkt an Nachbarn vermarkten – und das unter Umgehung (aber Nutzung) aller Konventionen mittels eines dezidierten Bezahlsystems namens Blockchain.

Gehandelt wird der Strom dabei wie eine eBay-Auktion. Physik ist nebensächlich und verkommt auf Kindergarten-Niveau: Meine Solaranlage erzeugt Strom – willst du ihn kaufen? Gib mir dafür dein Plastik-Geld. Siehst du, so einfach ist „Energie“. Nur die Erwachsenen machen darum so ein Theater.

Wen wundert es? CO2 „jettet“ ja auch mittels Zertifikat übers Internet um die Welt und der zertifizierte Ökostrom kann als Mail-Anhang ebenfalls problemlos aus Norwegen, Asien oder Australien transportiert werden. Diese banalen Probleme sind also längst gelöst, bleibt nur noch das der Umgehung der Bezahlsysteme. Und dafür haben die Amis schließlich das System der Startups.

Verkommt das EEG zum Raubrittertum und Energie wird so (in-)stabil wie in der Dritten Welt

Leider ist auf der Homepage der Staatssekretärin keinerlei Information über ihren Besuch in Brooklyn zu finden. Es wird zwar jeder Handschlag mit irgend einer mehr oder weniger wichtigen Persönlichkeit und vor allem viele Vergaben von Fördermitteln zu Klimaschutz-Maßnahmen, sowie Protestveranstaltungen gegen Atomkraft gelistet. Der Besuch in Brooklyn scheint ihr aber keiner Erwähnung wert. Und dabei wäre ihre Einschätzung hoch-interessant gewesen.

Denn sie besuchte (oder hat sich die FAZ getäuscht und Frau S.-Sutter war gar nicht dort) ein Modell, welches alle bisherigen Konventionen durchbricht und bei Einführung wohl der Beginn einer rücksichtslosen Raubritter-Zukunft des Energiesystems mit dem Ende seiner Zuverlässigkeit und Stabilität wäre. Genau das, was man angeblich glücklich in Deutschland verhindert hat: Die Voll-Privatisierung der öffentlichen Versorgungsbereiche ausschließlich zur Gewinn-Maximierung privater Investoren, wird mit diesem Modell in extremster Form neu aus der Taufe gehoben.

Weitere Information muss man sich deshalb nicht von der Fach-Begutachterin, sondern einer Verbraucherzentrale holen. Die Verbraucherzentrale von Nordrhein-Westfalen hat aus irgend einem Grund dazu sogar eine Studie verfassen lassen und Zusatzinformation hinterlegt.

Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen: [3] Blockchain – Chance für Energieverbraucher?

Dezentral gesteuertes Transaktions- und Energieliefersystem

Überträgt man die bisherigen Entwicklungen des Finanzsektors auf die Energiewirtschaft, kann die Blockchain ein dezentrales Energieliefersystem ermöglichen. Das heute mehrstufige System vom Stromerzeuger, Übertragungsnetzbetreiber, Verteilnetzbetreiber bis hin zum Lieferanten lässt sich möglicherweise radikal vereinfachen, indem Erzeuger und Verbraucher direkt in Verbindung gesetzt werden und es gelingt, die Netzsteuerung an die veränderten Anforderungen anzupassen.

Verbraucher können gleichzeitig Erzeuger sein, also Prosumer mit Erzeugungskapazität in Form von Solaranlagen, Kleinwindanlagen oder Blockheizkraftwerken. Die erzeugte Energie kann durch Blockchain direkt an Nachbarn verkauft werden. Über ein Blockchain-System werden getätigte Transaktionen angestoßen, übermittelt und gleichzeitig manipulationssicher dokumentiert. Die Abwicklung zwischen den Transaktionsparteien erfolgt direkt über ein Peer-to-Peer-Netzwerk.

Verbraucherzentrale NRW e. V.: [4] Blockchain – Potenziale und Herausforderungen

Werden Banken und Energieversorger überflüssig?

In der Energiewirtschaft findet ein Strukturwandel statt

Die aktuelle Diskussion um das Potenzial der Blockchain fällt in einen massiven Strukturwandel in der Energiewirtschaft. Die Bewegung weg von Atomstrom und fossiler Energie hin zu dezentraler, erneuerbarer Energie und der Megatrend der Digitalisierung sind Elemente dieses Strukturwandels, der neben Gewinnern immer auch Verlierer hervorbringt: Langjährig erprobte Geschäftsmodelle und Strategien funktionieren plötzlich nicht mehr, neue Konzepte sind gefragt. Verbraucher sollten dabei auf der Gewinnerseite stehen – ob als Prosumer, die aktiv eigene Energie vermarkten, oder als reine Bezieher von Energie. Die Möglichkeit einer zumindest teilweisen Emanzipation von den Energieversorgern durch die Blockchain könnte in dieser Hinsicht einige Chancen beinhalten und die bisherigen Vertriebsmodelle der etablierten Unternehmen durcheinanderwirbeln. Gerade Prosumer wären dann nicht mehr auf die jetzigen Energieversorger angewiesen, die aus Sorge um ihre herkömmlichen Geschäftsmodelle nicht unbedingt am (schnellen) Wandel interessiert sind.

Für alle Energieverbraucher könnten so theoretisch die Kosten sinken, weil Zwischenhändler entfallen. Entscheidend ist allerdings, dass diese potenziellen Kostenvorteile auch tatsächlich beim Verbraucher ankommen und nicht etwa in der Marge eines Blockchain-Betreibers hängen bleiben.

Ganz am Rande kommen der Verbraucherzentrale dann doch ein wenig Zweifel an diesem revolutionären Konzept. Irgend jemand muss sich doch noch dunkel erinnert haben, dass Energie einst mehr war als nur eine Steckdose:

[4] Im Energiesektor spielt zudem die Versorgungssicherheit eine entscheidende Rolle. Wer soll in einem denkbaren Markt ohne die klassischen Versorgungsunternehmen die Verantwortung übernehmen, wie wird die kontinuierliche Verfügbarkeit der Energie sichergestellt? Die Klärung dieser Fragen ist unerlässlich.

Bremsen die Versorger und versuchen etwas Vernunft in dieses Thema zu bringen? Nicht die Spur. Ein Mann, der es schon geschafft hat, seinen Konzern sprichwörtlich zerschlagen zu lassen, strotzt nur so vor Stolz und Engagement. Und er findet den Umbruch sexy. EEG-Strom erzeugt sich von selbst, anderen gibt es nicht (mehr) und so wird Verteilen und Verrechnen das sexy Geschäft der Zukunft. So weit kommt es halt, wenn ein älterer Volkswirtschaftler und Jurist die trockene Arbeit und seine Fantasien vermischt.

WAZ, 09.07.2016: [5] Der Star sind die Erneuerbaren Energien

Der Mann, der den Energie-Riesen Eon gezweiteilt hat, kommt leger daher. Johannes Teyssen wirkt bar jeden Drucks. Er führt nun den grünen Teil der Eon samt Atom-Altlasten. Im Interview skizziert er sein Bild von der Energie der Zukunft – und klingt dabei so gar nicht nach klassischem Ökostrom-Lobbyisten.

… Aber wir entwickeln für unsere Netze immer neue Lösungen, etwa um noch mehr Ökostrom transportieren zu können. Ich finde das total sexy.

Vielleicht ist Herr Teyssen aber auch nur immer seiner Zeit weit voraus und nur die Vergangenheit holt ihn immer neu ein. Strom kommt in naher Zukunft gesetzlich verordnet vollkommen ungeplant und un-planbar. Da wird die (Mangel-) Verteilung sicher ein immer wichtiger werdendes Zukunftsmodell. Und sexy wird es bestimmt, wenn bei der Web-Suche nach und Abrufen gerade zufällig online kursierender Stromkontingente die richtigen Werbe-Apps zum Überbrücken der stromlosen Zeiten mit eingeblendet werden. Klappt das nicht wie erhofft, erfüllt sich nur, was man dort kennt wo er Vorstandschef (e.on) oder Aufsichtsratsmitglied (Deutsche Bank, Salzgitter AG) ist: Erzeugen – zumindest nicht verhindern – von Problemen.

Manche Minister scheinen sich schon auf solche Zeiten vor zu bereiten:

Klimaretter.Info: NRW-Minister will E-Bikes statt E-Autos

Der nordrhein-westfälische Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) will lieber Elektrofahrräder als Elektroautos fördern. Das Ziel der Bundesregierung, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen, hält er für unrealistisch: "Wir werden eine Million Elektrofahrzeuge bis 2020 schaffen. Aber auf zwei Rädern, nicht auf vier", sagte Groschek in einem Interview mit der Rheinischen Post. Man müsse den Boom der E-Bikes nutzen.

Irgendwo her kennt man solche politische Dialektik. Wenn das versprochene Große nicht kommt, wird eben das Kleine hoch gehoben. Und der Bürger hat zu begreifen, dass sich die Ziele stetig ändern, er am Weg daran aber nichts ändern kann.

Quellen

[1] Frankfurter Allgemeine: New York probt die Abschaffung der Energieversorger

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/energiepolitik/new-york-probt-die-abschaffung-der-energieversorger-14367393.html

[2] Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen: Blockchain – Chance für Energieverbraucher?

http://www.verbraucherzentrale.nrw/blockchain

[3] Blockchain – Chance für Energieverbraucher? Kurzstudie für die Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf

[4] Verbraucherzentrale NRW e. V.: Blockchain – Chance für Energieverbraucher? Potenziale und Herausforderungen

[5] WAZ, 09.07.2016: Der Star sind die Erneuerbaren Energien

http://www.derwesten.de/wirtschaft/der-star-sind-die-erneuerbaren-energien-aimp-id11991524.html

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