Es erscheint paradox: Der Sozialismus, die beherrschende Ideologie des Sowjetimperiums, ist seit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 in der Schweiz nicht zurückgewichen, sondern vorgerückt.

Ab 1990 schnellte die Staatsquote in sechs Jahren von 28 auf 33 Prozent des Bruttoinlandprodukts, und die Schuldenquote der Schweiz stieg in 13 Jahren von 29 Prozent auf 51 Prozent an (2014: 35 Prozent). Die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt kletterten in nur zehn Jahren von 22 auf 31 Prozent des Bundeshaushalts.

Gleichfalls ab 1990 holten die linken Parteien im Ständerat von einem Zehntel der bürgerlichen Sitze auf ein Drittel auf, während sie im Nationalrat bei einem Drittel der bürgerlichen Sitze verharrten. Die linken Parteien blieben den bürgerlichen immer deutlich unterlegen. Der Linkskurs in der nationalen Politik nach 1989 lässt sich also nicht mit dem Kräfteverhältnis zwischen linken und bürgerlichen Parteien erklären. Es scheint, dass das bürgerliche Lager selbst sich weltanschaulich verändert hat.

BEISPIEL UMWELTPOLITIK

Ein Beispiel für die Verschiebung der ideologischen Kräfteverhältnisse liefert die heutige Umwelt- und Klimapolitik. Aus den Studentenprotesten in den 1960er Jahren hervorgegangen, war die Umweltschutzbewegung bis Ende der 1970er Jahre eine Domäne der Linken. Allmählich erfasste die Ökologie auch das bürgerliche Lager und setzte dem dort bestehenden Natur- und Heimatschutz seinen linken Stempel auf. Ausdruck der neuen parteiübergreifenden Ausrichtung war die Verabschiedung des Umweltschutzgesetzes 1983 und der darauf abgestützten Verordnungen über die Luftreinhaltung (1985), umweltgefährdende Stoffe, Boden-Schadstoffe und den Lärmschutz (alle 1986) sowie Abfälle (1990).

Bürgerliche und Linke setzten unterschiedliche Akzente – Bürgerliche wiesen stets auch auf die Kosten hin und zielten stärker auf technische Massnahmen, während Linke das Schutzziel über alles stellten und auch auf gesellschaftliche und globale Veränderungen abzielten. Doch die linke Stossrichtung setzte sich schliesslich gegen die bürgerliche durch. Jüngste Beispiele sind die Klimapolitik mit dem 2011 verabschiedeten CO2-Gesetz und das Vorhaben einer Energiewende, deren Energiestrategie 2050 voraussichtlich im Herbst dieses Jahres im Parlament zur Schlussabstimmung kommen wird.

DIE IDEE EINER ENERGIEWENDE

Das Ziel in der Energiestrategie 2050 ist der Verzicht auf Kernkraftwerke, verbunden mit einer Senkung des CO2-Ausstosses auf unter ein Viertel gegenüber 1990. Anders als bei früheren Umweltschutzmassnahmen, die wenigstens das Leben der Bürgerinnen und Bürger verbesserten, bringt die Energiestrategie 2050 keinen fassbaren Nutzen, werden doch weltweit neue Kernkraftwerke gebaut, und der CO2-Ausstoss steigt global stark an – namentlich in China, Indien, Südostasien und im Nahen Osten. Der Vorteil einer schweizerischen Energiewende existiert einzig in der Vorstellung. Real sind dagegen die enormen Kosten für die schweizerischen Konsumenten, die Landschaft und die Wirtschaft. Real sind auch die gesellschaftlichen Veränderungen und der Rückschritt, die sie mit sich führen, und die mit Formulierungen wie «2000-Watt-Gesellschaft », «ökologischer Fussabdruck eins» oder «ökologische Gerechtigkeit» verschleiert werden.

Den Auftrag zur Entwicklung der Energiestrategie 2050 erteilte das nationale Parlament. Am 18. März 2011, eine Woche nach dem Kernkraftwerk-Unfall in Fukushima, reichte die Grüne Fraktion einen Vorstoss ein, der den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie verlangte. Der Nationalrat hiess ihn mit 108 zu 76 Stimmen gut. Für den Vorstoss stimmten alle SP-, Grüne- und BDP-Vertreter sowie fast alle CVP-Vertreter (30 Stimmen bei einer Gegenstimme und vier Enthaltungen) und fast jeder dritte FDP-Parlamentarier. Gegen den Vorstoss stimmten die ganze SVP-Fraktion und gut jeder zweite FDP-Vertreter (19 zu zehn Stimmen bei fünf Enthaltungen). Die zuständige Bundesrätin Doris Leuthard (CVP), bis zu jenem Zeitpunkt für ihre Befürwortung von Kernkraftwerken bekannt, änderte in wenigen Tagen ihre Position und vertritt seither konsequent einen Ausstieg aus der Kernenergie. Ohne bürgerliche Unterstützung gäbe es heute also keine Energiestrategie 2050. Wie kam es dazu?

DIE IDEOLOGISCHEN WURZELN

Die Idee einer Energiewende geht weltanschaulich wie die Umweltpolitik auf die 1968er Bewegung, die Botschaft von «Grenzen des Wachstums» und die Ölkrisen in den 1970er Jahren zurück. Die 1968er Bewegung war zum einen vom Marxismus beeinflusst, das heisst von den Ideen des Klassenkampfs und der Revolution, zum andern vom Hedonismus, wonach ein grösstmöglicher Lustgewinn erstrangig erstrebenswert ist und das Gefühl dem Verstand vorgeht. Der revolutionäre Zorn richtete sich gegen den Kapitalismus und gegen die herkömmlichen Gemeinschaften: die Familie, die Kirche, die Nation. Seine Methode waren Dekonstruktion, Spott und Zerstörung. Mit der 1968er Bewegung drang progressives linkes Gedankengut über die Kultur in alle gesellschaftlichen auch bürgerlichen Schichten und erfasste sämtliche Lebensbereiche.

Auftraggeber des 1972 veröffentlichten Buches «Die Grenzen des Wachstums» war der 1968 gegründete Club of Rome, ein lockerer Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Industriellen, die nichts weniger als die Untersuchung, Darstellung und Deutung der «Lage der Menschheit» unter Berücksichtigung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedingungen zum Ziel hatten. Mit dem Buch zog Angst vor dem Weltuntergang in die Wissenschaft ein.

Die Ölkrisen von 1973/74 und 1979/80, die durch den Jom-Kippur-Krieg und die islamische Revolution in Iran ausgelöst worden waren, äusserten sich in einem starken und sprunghaften Preisanstieg für Erdöl aufgrund einer drastischen Drosselung der Erdölförderung in arabischen Ländern. Sie führten den westlichen Industrienationen deren Abhängigkeit von fossilen Brenn- und Treibstoffen vor Augen und hatten staatliche Massnahmen zur Sicherung der Energieversorgung zur Folge. Seither greift der Staat immer tiefer in die Energieversorgung ein.

Die Ökologiebewegung entstand unter dem Einfluss dieser Entwicklungen. Stellvertretend genannt seien das 1962 erschienene Buch «Silent Spring» der Biologin Rachel Carson gegen den Einsatz von Pestiziden, die 1971 gegründete Organisation Greenpeace und das 1973 publizierte Buch «Small is Beautiful» des Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher, in dem dieser sich gegen Grosstechnik und die Industriegesellschaft aussprach. Mit der Ökologiebewegung verbanden sich geistige Strömungen wie der Pazifismus und der Feminismus sowie spirituell-religiöse Ideen (zum Beispiel New Age). Seither werden Technik und Zivilisation als zerstörerische Kräfte angesehen.

Alle diese Einflüsse finden wir in einer Energiewende wieder: klassenkämpferisches Misstrauen gegen die Energiewirtschaft (insbesondere die Stromwirtschaft), revolutionärer Fanatismus im grundlegenden Umbau der Energieversorgung und in der Unempfindlichkeit für die Folgelast. Auch zeigt es sich in der Angst vor dem Weltuntergang in Form von Kernkraftwerken oder der Klimaveränderung, ein stetig wachsender Staat sowie die Ablehnung von Grosstechnik (Kernkraftwerke, Staudämme) und die Vorliebe für eine dezentrale Energieerzeugung und -speicherung.

«MARSCH DURCH DIE INSTITUTIONEN»

Dass Grüne, die aus linken Bewegungen hervorgegangen sind, und Linke, ideologisch derart beseelt eine Energiewende vorbehaltlos unterstützen, liegt auf der Hand, da sie auf derselben weltanschaulichen Grundlage beruhen. Erstaunlich ist dagegen, dass ihr Gedankengut jenseits vom traditionellen Natur- und Heimatschutz in bürgerlichen Kreisen Fuss gefasst hat. Eine Erklärung dafür ist der starke Einfluss der 1968er Bewegung auf die Kultur. Verbunden damit ist der «Marsch durch die Institutionen», das heisst die schleichende Veränderung der Gesellschaft durch die 1968er Generation an den Universitäten und Schulen, in den Medien und im Staat. Geschichtlich gesehen waren es erst Linke, die ihren Gegner, das Bürgertum, für dessen Ideologie kritisiert haben. Sich selbst nur den angeblichen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur und der Welt verpflichtet glaubend, richtete sich ihre Kritik gegen die bürgerliche Ideologie, die sie als «falsches Bewusstsein» bezeichneten. Ihre Kritik war, aus dem Marxismus kommend, theoretisch und ideologisch hoch entwickelt und rhetorisch aggressiv.

Heute sind es mehrheitlich Bürgerliche, die ihren Gegner für dessen Ideologie kritisieren. Sich selbst halten sie aber für ideologiefrei – sachlich, pragmatisch, lösungsorientiert. Das ist ihre Schwäche. Sie blenden aus, dass auch ihre Positionen auf einem ideologischen, das heisst weltanschaulichen Boden stehen, sei es der Liberalismus, der Katholizismus, der Protestantismus oder auch der Nationalismus. Deshalb ist ihre Kritik an Linken häufig steril und wirkungslos. Sie übersehen dabei den Einfluss der aus der 1968er Bewegung über die Kultur in die bürgerlichen Parteien eingedrungenen linken Ideen. Sie haben ideologisch kapituliert.

AUSEINANDERSETZUNG SUCHEN

Bürgerliche unterliegen – vielleicht mit Ausnahme der Wirtschaftspolitik im engen Sinn – häufig in der ideologischen Auseinandersetzung mit Linken, weil sie den Kampf der Ideen, insbesondere die Beschäftigung mit den Grundsätzen und der Geschichte der eigenen Weltanschauung vernachlässigen – sei es aus Achtlosigkeit, Hochmut oder Faulheit. Politische Terrainverluste, wie wir sie heute in den Parlamenten, der öffentlichen Verwaltung und den Gerichten, beispielsweise bei der Energie- und Klimapolitik feststellen, sind die logische Folge. Wenn Bürgerliche nicht nur gewählt werden, sondern tatsächlich eine bürgerliche Politik verwirklichen wollen, dann dürfen sie der ideologischen Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen, sondern sollten diese nachgerade suchen, um ihren Überzeugungen in der Politik und der Kultur Wirkung zu verschaffen. Zwar stimmt es, dass Ideen nicht satt machen. Ideen aber sind es, die die Welt bewegen.

Lukas Weber (aus: Basler Zeitung, 14. Juli 2016 auf dem Blog des Autors hier)

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