Stirbt die Kernkraft – stirbt der Mensch! Über die kommende Knappheit an Technetium

Was fällt Ihnen zum Thema Gesundheit ein? Der Verzehr von Obst und Gemüse? Bewegung und Sport? Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen?

Mir kommen solche Gedanken nicht. Mein Körper ist perfekt an meine Couch angepaßt. Gut, das mag jetzt auch an der Konstruktion der Couch liegen. Mein Hunger verlangt nach Steaks und Schnitzeln, nach Pommes und Bratkartoffeln. Arztbesuche vermeide ich nach Möglichkeit. Denn ich bin nicht krank. Ich muß nicht nach etwas streben, was ich schon erreicht habe.

Es ist schwer zu definieren, wann “Gesundheit” vorliegt, wenn man wirklich mehr darunter fassen möchte als die “Abwesenheit von Krankheit”. Der menschliche Körper ist ein hochkomplexes, von rückgekoppelten Prozessen geprägtes System. Da viele dieser Vorgänge noch immer nicht ausreichend verstanden sind, gibt es keine Möglichkeit, einen Idealzustand festzulegen. Allenfalls kann man herausfinden, wann und warum etwas nicht funktioniert, wann und warum Schäden auftreten. Viele medizinische Diagnosemethoden stoßen hier an prinzipielle Grenzen, da sie nur einen momentanen Zustand erfassen und nicht dynamische Änderungen in einer ausreichenden zeitlichen Auflösung. Häufig sind eben Filme erforderlich, um Abläufe zu begreifen. Einzelne Fotos reichen nicht. Das gilt nicht nur für Sportwettkämpfe, sondern auch für den menschlichen Blutkreislauf.

Die Nuklearmedizin gestattet solche Diagnoseverfahren. Ihr Ansatz ist, über Änderungen in der Verteilung bestimmter Stoffe die Vorgänge im Körper sichtbar zu machen. Man kann auf diese Weise Tumore und andere Schäden in verschiedenen Geweben identifizieren, man kann verfolgen, wie Knochen wachsen (oder auch nicht) und wie das Herz arbeitet. Selbst Gehirnfunktionen lassen sich entschlüsseln. Und das ganze erfolgt nichtinvasiv durch den Einsatz von Botenstoffen, deren Position von außen durch entsprechende Kamerasysteme detektierbar ist.

Deswegen fällt mir beim Thema Gesundheit Technetium ein. Genauer gesagt: das metastabile Isotop Technetium 99m.

Es handelt sich hier um einen Gammastrahler, dessen Emissionen den Körper durchdringen und von außen mit etablierter Technologie aufgezeichnet werden können. Seine Halbwertszeit von etwa sechs Stunden ermöglicht längere Untersuchungen, ohne den Patienten dauerhaft einer Gefährdung auszusetzen. Unterschiedliche Quellen geben an, 80-90% aller bildgebenden nuklearmedizinischen Untersuchungen würden mit Technetium 99m durchgeführt. Nach Angaben der Nuclear Energy Agency (NEA) handelt es sich dabei um 30 bis 40 Millionen Anwendungen weltweit pro Jahr.

Dummerweise kommt Technetium 99m in der Natur nicht vor, von sehr geringen Spuren in Uranvorkommen einmal abgesehen. Es ist künstlich herzustellen. Und am Anfang der Produktionskette steht mit einem Kernreaktor die derzeit effizienteste Maschine, die einen ausreichend hohen und stabilen Fluß an freien Neutronen erzeugen kann. Diese werden benötigt, um in einer entsprechend vorbereiteten Probe aus Uran 235 durch Spaltung Molybdän 99 zu erzeugen. Das wiederum mit einer Halbwertszeit von 66 Stunden zu Technetium 99m zerfällt. Die Abbildung verdeutlicht den Ablauf.

Nach etwa sechs Tagen wird die Ausgangsprobe dem Reaktor entnommen und zu einem Verarbeiter transportiert (häufig in unmittelbarer räumlicher Nähe zum herstellenden Reaktor). Dort trennt man mittels chemischer Methoden das Molybdän ab und liefert dieses (meist in flüssiger, gelöster Form) an einen Hersteller geeigneter Transportbehälter. Die gleichzeitig alsGeneratoren fungieren, da in ihnen das stetig entstehende Technetium in einer zur Entnahme geeigneten Weise separiert wird. Der Generator-Hersteller ist häufig derjenige, der den Vertrieb und die Lieferung an den Endkunden organisiert, an Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen.

Es ist schon eine bemerkenswerte logistische Kette, in der das gewünschte Produkt aufgrund seiner kurzen Haltbarkeit erst während des Transportes hergestellt wird. Hinzu treten die zahlreichen Sicherheits- und sonstigen Bestimmungen, denn immerhin handelt es sich hier um radioaktives Material. Von der Einbringung der zu bestrahlenden Probe in den Reaktorkern bis hin zur Terminvereinbarung mit dem Patienten in der nuklearmedizinischen Praxis ist der gesamte Ablauf minutiös zu planen.

Zur Herstellung von Molybdän 99 in ausreichenden Mengen eignen sich derzeit nur acht Forschungsreaktoren weltweit. Die Weiterverarbeitung erfolgt in lediglich fünf Einrichtungen. Die folgende Tabelle listet diese auf. Technetium-Generatoren produzieren nur fünf Unternehmen (an sechs Standorten in den USA, in Großbritannien, in Belgien, den Niederlanden und in Australien).

Das System ist nicht nur komplex, sondern auch fragil. Fällt ein Reaktor wegen unvorhergesehener Wartungsarbeiten aus, werden viele Patienten nicht mehr versorgt. Solche Engpässe hat es in der Vergangenheit schon gegeben. Sie könnten in der Zukunft häufiger auftreten, denn die beteiligten Reaktoren sind durchweg betagte Anlagen. Gleichzeitig rechnet die NEA mit einer ansteigenden Nachfrage nach Technetium für die Nuklearmedizin. Von 0,5% Wachstum in den Industrie- und 5% Wachstum in den Schwellenländern ist die Rede – jährlich. Wenn in diesem und im kommenden Jahr der französische OSIRIS (seit 1966 in Betrieb) und der kanadische NRU (seit 1957 in Betrieb) planmäßig außer Dienst gestellt werden, entfallen auf einen Schlag mehr als 40% der weltweiten Produktionskapazitäten. In weiteren 10 Jahren – und das ist ein kurzer Zeitraum in der Kerntechnik – werden dann auch der HFR  und der BR-2, beide Jahrgang 1961, nicht mehr zur Verfügung stehen.

Dies alarmiert natürlich die zuständigen Regierungsbehörden, die seit einigen Jahren in dieser Frage intensive Aktivitäten entfalten. Unbemerkt von der breiten Bevölkerung, jedenfalls in Deutschland. Vor dem Hintergrund von Energiewende und Atomausstieg haben staatliche Stellen erstens davon abgesehen, die Technetium-Krise öffentlich zu thematisieren. Zweitens ist auch kein Fachjournalist auf die Idee gekommen, hier nachzuhaken. Die Vorstellung von Kernkraftwerken, die über Elektrizität hinaus noch andere nützliche Dinge für die Gesellschaft produzieren, ist den Menschen fremd. Selbst die Patienten, bei denen Tumore durch die Nuklearmedizin frühzeitig erkannt und damit erfolgversprechend behandelt werden können, wissen wahrscheinlich häufig nicht, welcher Technologie sie ihre Heilung zu verdanken haben.

Eine ganze Reihe neuer kleiner Reaktoren für die Molybdän-Herstellung ist zwar geplant, mit Ausnahme zweier russischer Einrichtungen, die zusammen nicht die Hälfte der Kapazität des NRU aufweisen, wird aber wohl kaum ein anderes Vorhaben (u.a. in den USA, in Australien, in Korea, China, Brasilien, Argentinien und Frankreich) in den nächsten Jahren realisiert. Eineaktuelle Studie der NEA ist jedenfalls voll mit Formulierungen wie „Construction not yet started“ oder „Preliminary Design“. Bei den Verarbeitern sieht es nicht besser aus. Auch hier haben nur die Russen schon etwas zu bieten. Interessant ist der NEA-Vermerk „seeking financing“ bei einigen Projekten.

Es gibt also einen Markt mit erheblichen Wachstumsaussichten (man denke an Asien und Südamerika). Trotzdem investiert niemand, vor allem nicht von privater Seite.  Weil sich ein Engagement nicht rechnen würde. Die Hersteller und die meisten Verarbeiter sind als staatliche Einrichtungen voll- oder zumindest in Teilen finanziert. Wer dagegen gezwungen ist, kostendeckend zu arbeiten, kann seine Dienstleistung in diesem Umfeld nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten. Die Herstellung der Grundstoffe für die Nuklearmedizin ist ein schönes Beispiel dafür, wie Subventionen Investitionen und Innovationen behindern – und am Ende einen Mangel verursachen.

Nun ist Gesundheit mittlerweile ein von Mythen und Emotionen überfrachtetes Thema in der westlichen Welt. Da es jeden Bürger unmittelbar betrifft oder betreffen kann, ist hier jeder auch engagierter Advokat in eigener Sache. Eine Form der „Gewaltenteilung“ im übertragenen Sinne zwischen Experte und Laie gibt es häufig nicht mehr. Kaum jemand googelt, um anschließend sein Auto selbst zu reparieren. Aber viele googeln, um dem Arzt die Diagnose abzunehmen. Entsprechend kritisch ist das Thema in der politischen Handhabung. Bei Gesundheit sollte man besonders vorsichtig agieren. Für eine Werte und Wertschöpfungsmöglichkeiten vernichtende Energiewende wird man in Deutschland nicht abgewählt. Für eine Unterversorgung von Patienten verantwortlich gemacht zu werden, kann hingegen politische Karrieren abrupt beenden.

Also hat auch Deutschland, vertreten durch das Bundeswirtschaftsministerium, eine gemeinsame Erklärung einiger NEA-Mitgliedsländer unterzeichnet. In der zumindest ein gewisses Problemverständnis erkennbar wird. Die Bedeutung der Versorgungssicherheit mit Technetium 99m unterstreicht der Text ebenso, wie das Risiko eines bevorstehenden Mangels aufgrund der alternden Flotte an herstellenden Forschungsreaktoren. Geradezu revolutionär mutet dann die folgende Passage an:

WE RECOGNISE, on the other part, that an unsustainable economic structure is threatening the reliability of the 99Mo/99mTc supply chain, and that global action to move to full-cost recovery is necessary to ensure economic sustainability and long-term secure supply of medical isotopes.

Man sagt damit tatsächlich, man hätte verstanden, die mögliche künftige Verknappung (und auch alle bisherigen) durch eigenes Verschulden selbst hervorgerufen zu haben. Weil man eben bisher nicht die Rahmenbedingungen setzte, die gewinnorientierten Anbietern einen Eintritt in den Markt gestattet hätten. Nun aber will man das schleunigst ändern:

WE COMMIT, with the aim of jointly promoting an internationally consistent approach to ensuring the long-term secure supply of medical radioisotopes, to implement the HLG-MR principles in a timely and effective manner, and to:

⇒  Take co-ordinated steps, within our countries’ powers, to ensure that 99Mo or 99mTc producers and, where applicable, generator manufacturers in our countries implement a verifiable process for introducing full-cost recovery at all facilities that are part of the global supply chain for 99mTc;

⇒ Encourage the necessary actions undertaken by 99Mo processing facilities or 99mTc producers in our countries to ensure availability of reserve capacity capable of replacing the largest supplier of irradiated targets in their respective supply chain; ⇒ Take the necessary actions to facilitate the availability of 99mTc, produced on an economically sustainable basis, as outlined in the HLG-MR principles; ⇒ Encourage all countries involved in any aspect of the 99mTc supply chain, and that are not party to the present Joint Declaration, to take the same approach in a co-ordinated manner; ⇒ Take the necessary actions described above by the end of December 2014 or as soon as technically and contractually feasible thereafter, aware of the need for early action to avoid potential shortages of medical radioisotopes that could arise from 2016; ⇒ Report on an annual basis to the OECD Nuclear Energy Agency (NEA) on the progress made at the national level and support an annual review of the progress made at the international level, both in light of this Joint Declaration.

Wer nun erwartet, die Bundesregierung würde der deutschen Bevölkerung von sich aus die Hintergründe und Auswirkungen dieser internationalen Vereinbarung erläutern, sieht sich enttäuscht. Auf den Webseiten der drei direkt oder indirekt involvierten Bundesministerien für Wirtschaft, Forschung und Umwelt findet man dazu nichts.

Man verkündet seine Beteiligung an einer auf Spallation beruhenden Neutronenquelle in Dänemark, die laut Pressemitteilung auch irgendwas mit der Erzeugung von Radioisotopen für die Nuklearmedizin zu tun haben könnte (oder in diesem konkreten Fall vielleicht auch nicht), aber auf Technetium 99m geht man in diesem Zusammenhang nicht weiter ein. Das Umweltministerium kommuniziert da schon etwas konkreter. Abhilfe für Versorgungsengpässe soll nach dortigen Vorstellungen durch einen „Aktivitätsrechner“ geschaffen werden:

Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass in Zeiten des Technetium-Mangels auf Ersatznuklide mit höherer Strahlenbelastung für Patienten und Personal zurückgegriffen wird, hat das Bundesumweltministerium das Forschungsvorhaben “Optimierung des Radionuklidverbrauchs” gefördert. Das Ziel des Vorhabens war es, die eingesetzte Menge an Radionukliden für nuklearmedizinische Anwendungen in jeder Klinik oder Praxis zu optimieren. Das heißt, dass auf Grundlage der individuellen Untersuchungsanforderungen des jeweiligen Patienten und unter Berücksichtigung des radioaktiven Zerfalls des zur Verfügung stehenden Technetiums ein rechnergesteuerter Patientenplan erstellt wird.

Mehr als die Verwaltung des Mangels hat man nicht zu bieten. Dabei gibt es einen sogar sehr modernen Forschungsreaktor in Deutschland, der für die Erzeugung von Molybdän 99 eingerichtet werden könnte. Gemeint ist der FRM 2 in Garching, der 2005 in Betrieb genommen wurde und immerhin 20 MW Leistung bietet. Die Idee, mit diesem auch Grundstoffe für die Nuklearmedizin herzustellen, ist zwar bereits formuliert, begonnen wurde mit ihrer Umsetzung aber noch nicht. Außerdem entspräche ein solches Vorgehen auch nicht der oben zitierten NEA-Erklärung. Denn diese fordert ja gerade eine Abkehr von einer staatlich subventionierten hin zu einer privatwirtschaftlich und wettbewerblich organisierten Produktionskette.

Die Nuklearmedizin könnte unter solchen Rahmenbedingungen für Innovationen, neue Wertschöpfungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze in einer Spitzentechnologie von hoher internationaler Relevanz sorgen. Denn neben den herkömmlichen Reaktoren wären auch andere Konzepte für die Gewinnung von Molybdän 99 geeignet. Man nehme Flüssigsalzreaktoren wie den DFR, über den es in der neuen, fachlich begutachteten Veröffentlichung folgendes zu lesen gibt:

The Nuclear Energy Agency (NEA) estimates the future 99Mo world demand to be 4×1016 6-days-Bq (1066-days-Ci) per year, corresponding to a demand of roughly 1 kg (assuming 10% separation efficiency) directly from the nuclear fission in LWRs providing 99Mo. In contrast, one single DFR produces at least 30 kg 99Mo per year but – more important – already provides it in a separated form, see also Sec. 4.2. This strongly reduces the handling so that a complete on-site medical-clean production of the technetium generators are feasible which further simplifies the logistics of the delivery to the hospitals. This could lead to a cost implosion for the 99mTc radiotracer and therefore to an inflation of applications.

Einen alternativen technischen Ansatz entwickelt derzeit ein Team kanadischer Forscher. Nach einer Meldung aus dem Januar 2015 ist es diesem gelungen, Technetium 99m in einem Zyklotron herzustellen. Mehr als zwanzig derartiger Teilchenbeschleuniger sind in nuklearmedizinischen Einrichtungen in Deutschland bereits installiert.

Wer sich der Versorgungssicherheit für die Patienten verpflichtet fühlt, könnte auf dieser Grundlage handeln. Ein Förderprogramm zur Anregung von Forschung und Entwicklung in Verbindung mit der Schaffung geeigneter gesetzlicher Bedingungen wäre ein möglicher erster Schritt.

Unsere Regierung dagegen hat sich zu ihrer Verantwortung nur auf dem Papier bekannt. Es wird wohl vorerst auch dabei bleiben. Denn für nicht wenige lautstarke Protagonisten aus dem linksgrünen politischen Spektrum bedeutet der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung gleichzeitig das Ende jeglicher kerntechnischer Forschung und Entwicklung in Deutschland – oder zumindest einen Hebel, um dieses zu erzwingen. Mutige Wirtschafts- und Gesundheitspolitiker, die sich dagegen zu argumentieren trauen, sind nicht in Sicht. Wer leidet und stirbt, weil er nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend nuklearmedizinisch behandelt werden konnte, dem hilft in diesem Land keine mächtige Lobby.