Um 10.06 Uhr setzt sich der wichtigste Redner gemütlich auf das Podium der weltweit übertragenen Medienkonferenz, die schon seit 10 Uhr laufen sollte. Er lächelt für den Pulk der Foto­grafen vor ihm und tuschelt mit seinem wie immer diabolisch dreinschauenden Chef ­Rajendra Pachauri, den die Kollegen offiziell als «Pachy» ansprechen. Dann, um 10.09 Uhr, ­bittet der Moderator alle auf ihre Plätze und stellt mit der gewohnten Präzision seines ­Gremiums fest: «Das waren ein paar lange Nächte – wir freuen uns, dass wir zur Zeit ­beginnen können.»

Bild rechts: Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung (l-r): Lena Ek, Minister for the Environment, Sweden, IPCC WGI Co-Chairs Thomas Stocker and Dahe Qin, IPCC Chair Rajendra Pachauri, and Renate Christ, Secretary of the IPCC

Freitagmorgen im kalten Stockholm, sie ­haben es noch einmal geschafft. Vier Tage und Nächte lang rangen die Wissenschaftler des Uno-Klimarates (IPCC) mit den Vertretern von 110 Regierungen um ihren Bericht, der die globale Politik prägen soll. Auf gut 2000 Seiten mit über einer Million Wörtern legen 832 Auto­ren und Redaktoren die Ergebnisse von 9200 Studien dar – und was das Fazit sein soll, bleibt unklar.

Bei der 36-seitigen Zusammenfassung für die Politiker kämpften die Wissenschaftler und die Beamten um jede Zeile, und sie einigten sich bis fünf Uhr am Freitagmorgen darauf, sich um die umstrittensten Fragen zu drücken. Aber immerhin legen sie nochmals einen Konsens vor, der die Welt alarmieren soll. Zu verdanken ist dies dem Chef der ­Arbeitsgruppe, der sich als Wissenschaftler wie als Politiker bewährt: Thomas Stocker, Professor für Klima- und Umweltphysik in Bern.

Höhepunkt einer brillanten Karriere

Als der Hauptreferent nach den Floskeln von Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon per Videoeinspielung und nach den Kommentaren seiner Kollegen an die Reihe kommt, entschuldigt er sich zuerst bei den «Ladies and Gentlemen», die er mit breitem Zürcher ­Akzent anspricht: «Wir haben die letzten 52 Stunden fast pausenlos gearbeitet und nur 6 Stunden geschlafen – meine Stimme ist also wohl etwas langsam.»

Thomas Stocker sagt es später nochmals, als er eine Frage nicht versteht oder nicht verstehen will. Dabei lässt er sich die durchkämpften Nächte gar nicht ­anmerken, sondern blüht in seiner Rolle auf: Unter den ­Augen der Welt, die sich an diesem Morgen auf Stockholm richten, wie es Ban Ki Moon ausdrückte, stellt er die Zusammen­fassung des Klimaberichtes für die Politiker vor. Und er warnt damit vor «der grössten ­Herausforderung unserer Zeit».

Es ist der Höhepunkt einer brillanten Wissenschaftlerkarriere. 1959 geboren und in ­Zürich aufgewachsen, entschied sich Thomas Stocker für das Physikstudium an der ETH. Sein Mentor an der Versuchsanstalt für Wasserbau, ­Hydrologie und Glaziologie, Professor Kolumban Hutter, wollte die Bewegungen in Gewässern wie dem Luganersee verstehen. Der Musterschüler untersuchte deshalb in seiner Diplomarbeit und seiner Dissertation die topo­grafischen Wellen in rechtwinkligen Bassins und wurde für beide Arbeiten preisgekrönt. Und er erforschte in Montreal und an der Columbia University in New York die ­Strömungen in den Ozeanen der Welt.

Schon ab 1991 veröffentlichte er Arbeiten in den renommiertesten Zeitschriften wie Nature. «Bis vor kurzer Zeit herrschte die Meinung vor, dass die Ozeane als Komponente des Klima­systems nur eine passive Rolle spielen, einfach als Reservoir für Wärme und Wasser», schrieb er 1992. «In den letzten Jahren richtete sich aber die Aufmerksamkeit neu darauf, wie die Variabilität der Zirkulation in den Ozeanen den Klimawandel beeinflusst.» Das hiess in Laiensprache: Natürliche Prozesse, wie der veränderliche Wärmeaustausch zwischen Ozea­nen und Atmosphäre, können Änderungen des Klimas erklären.

1993 bekam Thomas Stocker einen Ruf an die Uni Bern, wo er den Lehrstuhl eines der ­Väter der Umweltphysik übernehmen sollte: Hans Oeschger hatte entdeckt, wie sich dank den Lufteinschlüssen in Eisbohrkernen das Klima über Hunderttausende von Jahren zurück untersuchen liess, und hatte für den ersten IPCC-Bericht von 1990 ein Kapitel geschrieben. Sein Nachfolger musste als 34-Jähriger ein eingespieltes Team mit 28 Mitarbeitern führen. So leitete er auch die ­Expedition in die Antarktis, die zwar mit der Erforschung von 800 000 Jahren Klimageschichte im ewigen Eis einen Weltrekord aufstellte, aber das falsche Ergebnis erzielte: Die Analyse ergab, dass der Anstieg des CO2-Anteils eine Folge der Er­wärmung und nicht deren Ursache war. 

«Der Erwartungsdruck war damals hoch», gestand Stocker später. «Die ersten vier Jahre habe ich gelitten.» Denn Hans Oeschger, der 1998 starb, verstand sich als Retter der Welt, wie sein Nachfolger im Nachruf von Nature andeutete: «‹Am schlimmsten für mich wäre es›, pflegte er zu sagen, ‹wenn es in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen starken Klimawandel gäbe und wir Wissenschaftler nicht den Mut hätten, frühzeitig vor diesen gefährlichen Entwicklungen zu warnen.›»

«Gesellschaftliche Verantwortung»

Noch zu Oeschgers Lebzeiten trat Thomas Stocker in dessen Fussstapfen. Ab 1996 arbei­tete er für den Uno-Klimarat, gleich als verantwortlicher Hauptautor beim Bericht von 2001 und danach auch bei jenem von 2007. Er brachte beim IPCC, das sich angeblich auf die erfahrensten Experten aus aller Welt stützt, auch mehrere Schützlinge unter; so schrieb der heutige ETH-Professor und IPCC-Kapitelverantwortliche Reto Knutti schon am Bericht von 2001 mit, als 28-Jähriger, ein Jahr vor dem Doktorat. Stocker führte 2001 bis 2013 das Natio­nale Forschungsprogramm «Klima», bei dem sich 130 Forscher an acht Instituten beteiligten. Und er gründete 2007 in Bern das Oeschger Centre for Climate Change Research, ein virtuelles Forschungsinstitut, in dem sich auch ­Historiker, Soziologen oder Ökonomen der Universität vernetzen. «Wir investieren in den Ausbau der Klimaforschung», sagte Rektor Urs Würgler bei der Einweihung, «weil wir als Universität bereit sind, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.»

Die Krönung folgte 2008, nachdem das IPCC im Vorjahr zusammen mit dem Ex-US-Vizepräsidenten Al Gore den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Erstmals kam es beim Klimarat zur Kampfwahl, wer neben dem Chinesen ­Dahe Qin für die reichen Länder den Vorsitz der Arbeitsgruppe I übernehmen sollte, die das Wissen zu den physikalischen Grundlagen des Klimawandels sichtet. Der Schweizer ­setzte sich in der direktdemokratischen Ausmarchung durch, auch weil Bundesrat Moritz Leuenberger angeboten hatte, die IPCC-Zen­trale in Bern mit jährlich 1,8 Millionen Franken zu unterstützen.

Thomas Stocker kann seither als wichtigster Klimaforscher der Welt gelten, zumindest als einer der strengsten und gescheitesten. Er ­bezeichnete sich, im Gegensatz zu vielen ­Kollegen, nie persönlich als Nobelpreisträger. Und er bestand, anders als manche Mitstreiter, auch immer darauf, nur über robuste wissenschaftliche Ergebnisse zu berichten und die Politik zu beraten, aber keine Politik zu befehlen. Das war jedenfalls stets die offizielle Rhetorik. Wenn der berühmte Berner Professor sich im Schweizer Fernsehen zu Klimakonferenzen äusserte, für die Zeitschrift Schweizer Familie «ins Königreich der Pinguine» reiste oder im halbamtlichen Magazin Volkswirtschaft strengere Massnahmen forderte, lautete die Sprachregelung, er sei «als Bürger Verfechter einer aktiven Klimapolitik».

Daneben betrieb er selbstverständlich Wissenschaftspolitik, auch als er 2012 im Magazin Science unter dem dramatischen Titel «The Closing Door of Climate Targets» warnte, die Zeit für das Vermeiden der Klimakatastrophe laufe aus. Die Klimaforschung muss ihre geopolitische Bedeutung behalten, in der Welt und vor allem auch in der Schweiz. Das Nationale Forschungsprogramm endete dieses Jahr; Hunderte von Nachwuchswissenschaftlern finden keine Arbeit, wenn es keine Bedrohungen durch den Klimawandel mehr gibt.

Botschaften in einfachen Aussagen

In Stockholm bewährt sich Thomas Stocker ­jedenfalls als Politiker. Er fordert, dass der Klima­rat seine Botschaften in ganz einfachen Aussagen herüberbringt: «Die Menschen beeinflussen das Klima», das kann das IPCC jetzt mit 95 statt nur mit 90 Prozent Gewissheit ­sagen.

(Auch jeder Skeptiker würde dem zustimmen, denn CO2 wirkt eindeutig als Treibhausgas, umstritten ist nur, wie stark. Bei der Klimasensitivität – um wie viel die Temperatur bei einer Verdoppelung des CO2-Anteils steigt – herrscht aber solche Ungewissheit, dass das ­IPCC nicht einmal mehr den wahrscheinlichsten Wert angibt.)

Und er setzt durch, dass in der Zusammenfassung der Satz nicht mehr steht, die Klimamodelle könnten «die beobachtete Reduktion im Erwärmungstrend der letzten zehn bis fünfzehn Jahre» – populär ­«Klimapause» genannt – nicht reproduzieren.

(Die zusätzliche Wärme, welche die Wissenschaftler errechnen, aber nicht beobachten, verschwindet gemäss der offiziellen Erklärung in den Tiefen der Ozeane – bisher nicht nachweisbar. Die Klima­forschung, welche die natürlichen Variabilitäten herunterspielt, ­betrachtet die Meere also einfach wieder als «Reservoir für Wärme und Wasser», wie es ­Stocker vor zwanzig Jahren kritisierte.)

Bei der Medienkonferenz fragt ein Journalist der britischen Mail on Sunday den Haupt­referenten, wie lange die Klimapause noch dauern dürfe, bis die Forscher das Versagen ­ihrer Modelle eingestehen würden. Stocker, ganz der gewiefte Politiker, überhört die Kritik und behauptet das Gegenteil: «Die Modelle zeigen eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den längerfristigen Trends.»

Als der ­Journalist with all respect darauf hinweist, dass seine ­Frage unbeantwortet bleibt, schiebt der Klima­papst unwillig nach, eine Jahreszahl ­lasse sich nicht angeben und die Klimatrends lies­sen sich nur über dreissig Jahre beurteilen.

(Ende der achtziger Jahre genügten noch knapp zehn Jahre Erwärmung, nach der Angst vor einer neuen Eiszeit, um vor der drohenden Klimakatastrophe zu warnen.)

Als schliesslich der Journalist des Economist die naheliegende Frage zu stellen wagt, wie die IPCC-Wissenschaftler bei ihren Aussagen auf 95 Prozent Gewissheit kämen, wenn doch die Erwärmung aufgrund des CO2 und das Verschwinden der Wärme in den Ozeanen ungewiss blieben, putzt ihn der Vorsitzende nur noch herunter, mit eingeschlafenem Gesicht, wie er später gesteht:

Die Medien brächten einiges durch­einander, weil sie die Botschaften nicht verstanden hätten.

Dann schaut Thomas ­Stocker auf die Uhr: 11.48 Uhr, seine Zeit ist um.

Übernommen von Die Weltwoche, Politische Wissenschaft | Ausgabe 40/2013 | Donnerstag, 3. Oktober 2013. EIKE dankt für die freundliche Genehmigung der Weltwoche zur Veröffentlichung und gibt auf ihren Wunsch hin den Link auf den Artikel an (hier).

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