Update-Fortsetzung:

Nordrhein-Westfalens FDP-Chef Christian Lindner will das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen. „Ich bin dafür, dass wir im Herbst konkret über ein Ausstiegsgesetz nachdenken“, sagte Lindner gegenüber der Deutschen Presse-Agentur dpa

Text……Die Energiewende nach Fukushima war ein Super-GAU der politischen Kommunikation. Keine Entscheidung einer Bundesregierung hat ein derartiges Chaos verursacht wie der Ausstieg aus der Kernenergie. Die Opposition hätte die Verantwortlichen längst durch die öffentliche Arena geprügelt, wenn sie die Entscheidung nicht am liebsten selbst getroffen hätte.

Der Ersatz für Versorgungslücken bei Windstille und Wolken ist ungeklärt. Zum Ausbau der Stromnetze liegen nur ungenaue Pläne vor. Die Pläne für Stauseen zur Speicherung überflüssiger Energie erschöpfen sich in Absichtserklärungen. Die unterirdische Lagerung von CO2 aus Kohle- und Gaskraftwerken ist nicht allgemein verbindlich geregelt. Sicher ist nur, dass die Energiekosten weiter steigen, aber wie hoch sie werden, weiß wiederum niemand.

Wie konnte das geschehen? Eine erste Antwort gibt der Blick auf die politische Lage und Praxis von Angela Merkel. Der CDU drohten im April 2011 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wegen der Anti-Atom-Proteste nach Fukushima Niederlagen bei den Landtagswahlen.

Zudem bestand die Gefahr, dass das Verfassungsgericht das Gesetz zur Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken für zustimmungsbedürftig erklären und es danach an der Bundesratsmehrheit scheitern würde. Wenn es anders entschieden hätte, wäre nach der Bundestagswahl 2013 eine Koalition mit SPD oder Grünen wegen der Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken schwierig gewesen. In der Zwischenzeit hätte sich Norbert Röttgen als Alternative zu Merkel profilieren können.

In dieser Situation musste einer Politikerin, die ihre Karriere radikalen Wendungen verdankt, der Ausstieg aus der Kernenergie als Mehrzweckwaffe erscheinen, die alle Probleme löst.

Deutsche Medien thematisieren Kernenergie häufig

Merkels situativer Politikstil alleine erklärt aber die Entscheidung für ein Moratorium und ihre absehbaren Folgen nicht, weil sie von weiten Teilen der Unionsführung mitgetragen wurde. Hinzu kam die spezifisch deutsche Reaktion auf das Seebeben, den Tsunami und den Reaktorunfall in Japan. Die deutschen Medien berichteten über diese drei Katastrophen nicht nur insgesamt wesentlich intensiver als die Medien in der Schweiz, in Frankreich und in Großbritannien. Sie befassten sich vor allem intensiver mit dem Reaktorunfall.

Das belegt eine Gegenüberstellung der Berichterstattung in jeweils zwei vergleichbaren Zeitungen und zwei Fernseh-Nachrichtensendungen in den vier Ländern: Die deutschen Zeitungen veröffentlichten nach dem Tsunami innerhalb eines Monats 311 Beiträge über Fukushima – und damit fast doppelt so viele wie im Durchschnitt die Zeitungen der anderen Länder. Die deutschen Fernsehsender sendeten dazu mit 160 Beiträgen fast anderthalbmal so viele wie die Sender im Ausland. Nicht eingeschlossen sind darin die zahlreichen Sonderseiten der Zeitungen und die Sondersendungen der Fernsehsender, die vor allem die deutschen Medien gemacht haben.

Die deutschen Medien thematisierten zudem viel häufiger die Kernenergie im eigenen Land. In Frankreich und England war das nur sehr selten ein Thema. Das Geschehen in Japan schien aus Sicht vieler deutscher Journalisten nur das zu bestätigen, was man hier schon lange zu wissen glaubte, nämlich die Unbeherrschbarkeit der Kernenergie.

Ihre Darstellung entsprach, wie Umfragen zeigen, der Sichtweise eines Großteils der Bevölkerung. In Deutschland ging es, anders als in Frankreich und England, nicht vorrangig um die japanischen Opfer des Tsunami, sondern um die deutschen Opfer der seit Tschernobyl verbreiteten Atomangst.

Das Gegenteil dessen erreicht, was geplant war

Der Beschluss zur zeitweisen Abschaltung deutscher Kernkraftwerke (Moratorium) hat die Diskussion über die Bedeutung des Reaktorunglücks in Japan für die Zukunft der Kernenergie in Deutschland zusätzlich angeheizt. Zwar waren bereits einen Tag nach dem Reaktorunfall in Fukushima die ersten Beiträge über die Zukunft der hiesigen Kernenergie erschienen.

Die Welle von Berichten über die Stilllegung von hiesigen Kernkraftwerken, ihre Notwendigkeit zur Energieversorgung, Anti-Atom-Demonstrationen in deutschen Städten und so weiter erreichte aber erst nach dem Moratorium ihren Höhepunkt. Die politisch Verantwortlichen haben folglich damit genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie angeblich erreichen wollten, eine Beruhigung der Bevölkerung.

Die Konzentration der Berichterstattung auf die Kernenergie im eigenen Land ging in den deutschen Medien mit überwiegend negativen Aussagen über die Risiken der Kernenergie einher. Nach ihrer Darstellung bestätigte der Reaktorunfall von Fukushima die These, dass die Kernenergie generell unbeherrschbar ist. Fukushima erschien als Menetekel.

Die Diagnose wurde durch massive Forderungen nach einem Ausstieg aus der Kernenergie ergänzt: In der Presse war das der Tenor von 80 Prozent aller Aussagen zur Zukunft der Kernenergie, im Fernsehen war es der Tenor von sogar 90 Prozent. Dadurch entstand eine scheinbar ausweglose Situation, in der auch diejenigen das Vorgehen von Merkel mittrugen, die es für falsch hielten.

Zweckrational oder wertrational?

Bereits wenige Tage nach dem Moratorium, am 17. März, erkannte Merkel diese Chance und sprach vom „Atomausstieg mit Augenmaß“. Das führt zum Kern des Problems: der Rationalität politischer Entscheidungen und der Verantwortung dafür.

Der Soziologe Max Weber unterschied in seinem berühmten Essay über „Politik als Beruf“ (1919) „zweckrationales“ und „wertrationales“ Handeln. Nach Weber handeln Politiker zweckrational, weil sie erstens verschiedene Zwecke rational gegeneinander abwägen, zum Beispiel den Ausstieg aus der Kernenergie und die Sicherung politischer Macht, und weil sie zweitens die negativen Nebenfolgen bedenken, etwa die Kosten eines Ausstiegs aus der Kernenergie.

Dagegen handeln Journalisten wertrational, weil sie sich ohne Rücksicht auf die absehbaren Nebenfolgen nur von einem herausragenden Zweck leiten lassen, zum Beispiel dem Ausstieg aus der Kernenergie ohne Rücksicht auf die absehbaren Kosten.

Ob diese Annahmen zutreffen, klärt eine Analyse der Art und Weise, wie sich Politiker und Journalisten in elf Medien – „Die Welt“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Handelsblatt“, „Bild“-Zeitung, „Der Spiegel“, „Focus“, ARD („Tagesschau“, „Tagesthemen“) und ZDF („Heute“, „Heute-Journal“) – in den vier Wochen nach Fukushima zum Ausstieg aus der Kernenergie äußerten.

Politiker haben in insgesamt 130 Beiträgen dieser Medien einen Ausstieg aus der Kernenergie gefordert, Journalisten deutlich seltener, in nur 26. Bedeutsam ist, dass nicht nur die Journalisten, sondern auch die Politiker im Zusammenhang damit nahezu nie auf die Kosten der Energiewende eingegangen sind. Politiker haben diesen Aspekt sogar noch seltener angesprochen als Journalisten (vier Prozent gegenüber zwölf Prozent der Aussagen). Beide haben sich damit ohne Rücksicht auf die Nebenfolgen, unter anderem die Kosten, von einem alles beherrschenden Ziel leiten lassen, dem Atomausstieg, und folglich nicht zweckrational, sondern wertrational argumentiert.

Das widerspricht den Annahmen Webers, entspricht aber dem Selbstverständnis eines Teils der Politiker. Das belegen ihre Reaktionen auf folgende Problembeschreibung: „Politiker dürfen bei ihren Entscheidungen nicht nur an Problemlösungen denken. Sie müssen auch unbeabsichtigte negative Nebenfolgen berücksichtigen, die dadurch entstehen können.“

Bei einer Befragung von Bundestagsabgeordneten aller Parteien schon vor Fukushima hielt es nur eine Minderheit (40 Prozent) für „sehr wichtig“, dass Politiker „auch unbeabsichtigte negative Nebenfolgen“ ihrer Entscheidungen berücksichtigen. Die meisten wollten nicht so weit gehen und meinten nur, es sei „durchaus“ (55 Prozent), aber eben nicht „sehr wichtig“.

Moralische Verantwortung?

Weber äußerte sich auch zur Verantwortung der Handelnden. „Verantwortungsethisch“ verhält sich, wer die Verantwortung auch für die absehbaren negativen Nebenfolgen seines Handelns übernimmt und sein Verhalten danach ausrichtet. Nach Weber gehört die Verantwortungsethik zur Zweckrationalität und ist typisch für Politiker.

Auch daran weckt die Abgeordnetenbefragung Zweifel. Dies belegen die Reaktionen auf folgende Problembeschreibung: „Entscheidungen von Politikern zur Beseitigung von Missständen können unbeabsichtigte negative Folgen haben. Sind Politiker für solche Folgen moralisch verantwortlich oder nicht verantwortlich?“ Nur ein Fünftel (18 Prozent) der Abgeordneten erklärten, sie seien „in jedem Fall dafür verantwortlich“. Mehr als zwei Drittel (70 Prozent) meinten dagegen, sie seien „dafür nur verantwortlich, wenn die negativen Folgen absehbar waren“ – was auf den Ausstieg aus der Kernenergie zutrifft.

Damit stellen sich zwei Fragen: Wie sieht es um die moralische Verantwortung der damals handelnden Politiker für die unbeabsichtigten, aber absehbaren negativen Nebenfolgen der Energiewende aus? Und wie kann man die Unterschiede, um nicht zu sagen Widersprüche, zwischen den Annahmen Webers und der beobachtbaren Praxis erklären?

Hinweise liefern erneut die Antworten der Abgeordneten. Vorgegeben war die These: „Politiker vertreten vor allem ihre Eigeninteressen und die Interessen ihrer Partei.“ Gefragt wurde, „auf wie viele Politiker“ nach ihren eigenen Erfahrungen dies zutreffe. Nahezu die Hälfte (45 Prozent) der Bundestagsabgeordneten erklärte, das treffe auf „alle, fast alle“ oder „die Mehrheit“ der Politiker zu. Ein weiteres Viertel (26 Prozent) meinte, es treffe auf „etwa die Hälfte“ zu. Folglich waren deutlich mehr als zwei Drittel der Ansicht, das sei typisch für die Hälfte oder sogar noch mehr ihrer Kollegen. Dagegen meinten nur relativ wenige (25 Prozent), das gelte für „eine Minderheit“.

Machtverhältnis zwischen Medien und Politik kehrt sich um

Dies führt zu einem letzten Aspekt der Problematik – die tatsächliche oder vermeintliche Macht der Medien.

Die Bundestagsabgeordneten und die gleichzeitig befragten Hauptstadtkorrespondenten sprachen übereinstimmend den Medien mehr Einfluss auf die Politik zu als der Politik auf die Medien. Anhand einer Skala von 0 („überhaupt kein Einfluss“) bis 10 („sehr großer Einfluss“) stuften die Politiker den Einfluss der Politik auf die Medien mit 5,3 den Einfluss der Medien auf die Politik mit 8,2 ein. Die Journalisten nannten Werte von 6,2 und 7,0. Hierbei handelt es sich um Einschätzungen, die auf eigenen Erfahrungen beruhen und entsprechend aussagekräftig sind.

Gestützt auf Vergleiche mit früheren Befragungen, kann man feststellen: In den vergangenen 40 Jahren hat sich das Machtverhältnis zwischen Medien und Politik umgekehrt. Die Folge ist eine fortschreitende Mediatisierung der Politik, ihre Anpassung an den mehr oder weniger kurzfristigen Medientenor.

Verstärkt wird die reale Machtverlagerung vom sogenannten Andere-Leute-Effekt: Wie die meisten Menschen glauben auch Politiker um so eher an eine starke unerwünschte Wirkung von Medienberichten auf andere Menschen, je größer die Zahl dieser Menschen und je größer die soziale Distanz zu ihnen ist. Deshalb schreiben Politiker den Medien einen besonders großen Einfluss vor allem auf Wähler zu.

Dies führt zur Ausgangsproblematik zurück: Die übertriebene Wahrnehmung der Macht der Medien verleitet angesichts eines übereinstimmenden Medientenors – wie in der Zeit nach Fukushima – auch besonnene Politiker zu Panikreaktionen, bei denen sie alle Bedenken vergessen. Sie wollen nur raus aus der Situation, und das so schnell wie möglich. Die Art und Weise des Ausstiegs aus der Kernenergie ist ein Beispiel dafür. Die Verantwortung für die Nebenfolgen übernimmt niemand, und den Preis bezahlen die Bürger.

Autoren: Hans Mathias Kepplinger ist Professor für empirische Kommunikationswissenschaft (em.) an der Universität Mainz. Richard Lemke ist sein Projektmitarbeiter.

Mit Dank übernommen von „Die Welt“ vom 13.8.12 Originalartikel hier

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