Es sind für viele Mitteleuropäer erstaunliche Aussagen, die Wolfgang Weiss vor kurzem machte. Weiss ist Vorsitzender des Uno-Wissenschaftskomitees zu den Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR). Gemäss den heute zur Verfügung stehenden Informationen seien die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomkatastrophe von Fukushima wohl gering, sagte Weiss. Vor allem wegen der zügigen Evakuation seien die Radioaktivitätsdosen, die die Bevölkerung abbekommen habe, «sehr tief». Einige wenige Arbeiter im havarierten Werk hätten zwar hohe Dosen abbekommen. Es seien bis jetzt aber keine gesundheitlichen Probleme bei ihnen zu beobachten – insbesondere auch keine Strahlenkrankheiten, wie sie bei vielen Arbeitern nach der Atomkatastrophe 1986 in Tschernobyl auftraten.

Weiss’ Aussagen kontrastieren mit dem Bild, das man sich in der Schweiz und in Deutschland von «Fukushima» macht. Das Unglück gilt als «eine der grössten Technik­katastrophen aller Zeiten» (Bild der Wissenschaft). Zum Jahrestag sprechen die Medien von der «Strahlen­hölle» (Tages-Anzeiger), suggerieren verhee­rende Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung und betonen unablässig, dass die Evakuierten wohl nie mehr in ihre Heimat zurückkehren könnten. Dass der Tsunami, der die Havarie auslöste, etwa 20.000 Menschen ­tötete, fast eine halbe Million Häuser zerstörte und etwa 500 Quadratkilometer Land verwüstete, trat in der hiesigen Berichterstattung rasch in den Hintergrund. Das Atomunglück war auch der Grund, dass die Schweiz und Deutschland kopfüber den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Wer sich hingegen auf Fakten stützt, muss zum Schluss kommen, dass Wolfgang Weiss richtig liegt. «Fukushima» war, verglichen mit anderen Katastrophen, nur ein Ereignis mittlerer Bedeutung. Das zeigen Recherchen der Weltwoche.

Nach der Atomkraftwerk-Havarie in Fukushima am 11. März letzten Jahres gelangte an radio­aktivem Material grob geschätzt etwa ein Zehntel dessen in die Umwelt wie nach der Katastrophe in Tschernobyl 1986. Ein grosser Teil davon wurde Richtung Pazifik weggetragen und hat darum kaum Schaden angerichtet. Trotz düsterer Medienberichte waren freigesetztes Strontium und Plutonium nie ein Problem. Von Bedeutung bei den ausgestossenen radioaktiven Substanzen waren Iod, das mit einer Halbwertszeit von acht Tagen aber nur einige Wochen lang relevant war, und Cäsium. Mit ­einer Halbwertszeit von dreissig Jahren ist Cäsium hauptverantwortlich für die heute noch vorhandenen Belastungen um das AKW Fukushima.

Wegen der Radioaktivität infolge des Atom­unglücks ist bis heute kein einziger Mensch ums Leben gekommen. Und die Chancen stehen gut, dass es auch in Zukunft kaum Opfer geben wird. Die meisten Arbeiter, die nach der Havarie im AKW im Einsatz waren, haben eine Dosis unter 100 Millisievert (mSv) erhalten. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass einmalige Radioaktivitätsdosen bis zu diesem Wert schädlich sind. Allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen. Darum ­gehen Präventivmediziner davon aus, dass es ­keine untere Schwelle der Schädlichkeit gibt. Sie rechnen die negativen gesundheitlichen Folgen, die man bei hohen Dosen beobachtet, linear auf tiefe Dosen herunter. Auch unter diesen Annahmen hat sich aber das Risiko, im Alter an Krebs zu erkranken, bei den Arbeitern mit einer Dosis bis 100 mSv um maximal ein halbes Prozent erhöht. Es gibt jedoch 110 Arbeiter, die stärker bestrahlt wurden, sechs davon mit mehr als 250 mSv (Spitzenwert 678 mSv). Ihr Risiko für Krebs in späteren Jahrzehnten ist aber gegenüber nichtbestrahlten Menschen höchstens um wenige Pro­zent gestiegen.

Dank der zügigen Evakuationen unmittelbar nach dem Unglück wurde die Bevölkerung gesundheitlich kaum beeinträchtigt. Etwa 100.000 Bewohner im Umfeld des AKW Fuku­shima müssen (auf die ganze Lebenszeit hochgerechnet) mit einer zusätzlichen Dosis von bis zu 50 mSv rechnen. Das ist wenig im Vergleich zur natürlichen Strahlung, die im weltweiten Schnitt für eine Lebensdosis von etwa 150 mSv sorgt. In einigen Gebieten der Welt ­beträgt die Belastung durch natürliche Radioaktivität sogar das Zwei-, Drei- bis Zehnfache dieses Durchschnittswerts. Dazu zählen viele Orte in den Alpen. Bis heute konnten an solchen Orten aber nie negative Auswirkungen der Strahlung auf die Gesundheit nachgewiesen werden. Doch selbst wenn man annimmt, dass auch tiefe Dosen schädlich sind, sind die Auswirkungen in Fukushima für die Bevöl­kerung gering. Die statistische Lebenszeit­verkürzung bei einer zusätzlichen Dosis von 10 mSv beträgt etwa zweieinhalb Tage, bei 50 mSv knapp zwei Wochen. Im Vergleich zu anderen Lebensrisiken ist das fast vernach­lässigbar.

Wie eine Zigarette alle acht Jahre

Auch die Belastung durch verstrahlte Lebensmittel kann als unbedeutend angenommen werden. In Japan wurde und wird die Bevölkerung konsequent vor belasteter Nahrung geschützt. Während im Mai noch bei fünf Prozent aller Lebensmittelproben die Grenzwerte überschritten wurden, waren es im Juli noch drei Prozent und im August weniger als zwei. Zudem stellt die Überschreitung eines Grenzwertes noch längst keine Gesundheitsgefahr dar. In der Regel liegen die Grenzwerte (in ­Japan und bei uns) um das Tausendfache unter den Dosen, die medizinisch relevant sind. Die Schweizer Medien bauschen die Gefahren aber auf. So berichtete der Gesundheitstipp im letzten Oktober von angeblich verstrahltem Tee aus Japan in Schweizer Läden. Die maximal gemessene radioaktive Verstrahlung betrug dabei 6,1 Becquerel pro Kilogramm. Greenpeace warnte düster vor dem Konsum des Tees. In Wahrheit entspricht das Risiko – selbst wenn man dauerhaft täglich sechs Tassen dieses Tees trinken würde – lediglich dem Risiko ­einer Zigarette alle acht Jahre. Das zeigen Berechnungen der Weltwoche.

Viele Schlagzeilen erzeugte das Wasser, das in Fukushima zur Kühlung eingesetzt wurde und darum radioaktiv belastet war. Als im letzten April ein Teil dieses Wassers infolge von Lecks ins Meer floss, wurde in den Medien eine Verseuchung des Pazifiks suggeriert. Meerwasser ist aber ganz natürlich ebenfalls radioaktiv. Ein Kubikkilometer Wasser enthält im weltweiten Schnitt zum Beispiel drei Tonnen Uran. Die zusätzliche Radioaktivität, die ins Meer gelangte, entspricht der natürlich vorhandenen Radioaktivität einiger hundert Kubikkilometer Meerwasser. Das tönt nach viel, ist es aber nicht: Man kann davon ausgehen, dass das Kühlwasser innert kurzer Zeit stark verdünnt wurde und die Kontamination der entsprechenden Wasserschichten schon bald vernachlässigbar klein war. Ein Teil des radioaktiven Materials setzte sich zwar in Meeres­sedimenten fest, was jedoch höchstens lokal von Bedeutung ist: Nimmt man an, dass etwa zehn Prozent des radioaktiven Materials in den Meerboden sickerte, und vergleicht man diese Menge mit der natürlichen Radioaktivität von Böden (oberster Meter), entspricht die zusätzliche Belastung derjenigen, die etwa hundert Quadratkilometer Meerboden ganz natürlich aufweisen – ein eher geringer Betrag.

Auch das Kühlwasser, das sich im Untergrund der Reaktoren gesammelt hat, stellt kein Problem mehr dar: Dessen maximale ­radioaktive Belastung entsprach im vergangenen Februar lediglich der von gewöhnlichem Regenwasser, wie Messungen zeigen. In manchen Gebieten der Welt ist Regenwasser sogar mehr als hundertfach höher belastet. Denn ­Regen wäscht natürlich vorhandene radioaktive Substanzen in der Luft aus.

Doch was ist mit den etwa 100.000 Menschen, die noch immer nicht in ihre Häuser zurückkehren können? Ist die Errichtung grossflächiger Sperrzonen von unbestimmter Dauer nicht der Beweis, dass die Produktion von Atomenergie unverantwortlich ist? Zum Jahrestag des Reaktorunglücks sind die Medien voll von berührenden Berichten über Menschen, die noch immer in Notunterkünften leben und alle Perspektiven verloren haben.

Eine Evakuation unbestimmter Dauer ist tatsächlich eine gewaltige Belastung. Allerdings scheint es, dass statt der radioaktiven Strahlung vielmehr die übertriebene Angst vor ihr für solches Leid verantwortlich ist. «Weil Evakuierte Haus und Heimat, meist auch ihre Jobs und Zukunftsperspektiven verlieren, können Stress und Angst ihre Gesundheit viel stärker gefährden als niedrige Strahlendosen», sagte Maria Blettner von der deutschen Strahlenschutzkommission, deren Mitglieder vom Bundesumweltministerium berufen werden. Angesichts der Tatsache, dass die zu erwartende (zusätzliche) Lebensdosis in weiten Teilen der Sperr­zone in Fukushima nicht höher liegt als in bekannten Kurorten der Welt, muss man sich fragen, ob eine Rückkehr nicht angezeigt ist. Bezüglich der Atomkatastrophe von Tschernobyl, die viel gravierender war, kam ein breit abgestütztes Wissenschaftsgremium unter Leitung der Uno zum Schluss, dass nicht die Strahlung, sondern die Beeinträchtigung der Psyche infolge von Stress und Angst das grösste Gesundheitsproblem war.

Eine Million Kubikmeter Giftschlamm

Tatsächlich können in Japan viele Evakuierte mit einer Rückkehr in ihre Häuser rechnen, denn die Entgiftung der belasteten Gebiete schreitet voran. Die Regierung hat ­diese Gebiete in drei Zonen eingeteilt. Für ­etwa 300 km2, in denen die Belastung unter 20?mSv pro Jahr liegt, soll die Rückkehr der Bevölkerung in einigen Monaten beginnen und bis März 2014 abgeschlossen sein. Weitere ­zirka 600 km2, wo die Belastung heute zwischen 20 und 50 mSv beträgt, sollen so weit dekontaminiert werden, dass eine Rückkehr ebenfalls bis März 2014 möglich ist. Nur etwa 150 km2, wo die Belastung über 50 mSv pro Jahr liegt, ­bleiben für die nächsten fünf Jahre evakuiert.

Eher geringfügig sind die Auswirkungen von «Fukushima» auch dann, wenn man mit anderen Umweltkatastrophen vergleicht. Im Ok­tober 2010 brach im ungarischen Kolontár ein Rückhaltebecken zur Lagerung von Rotschlamm, der bei der Aluminiumproduktion anfällt. Etwa eine Million Kubikmeter Giftschlamm ergossen sich über 40 km2 Fläche. Zehn Menschen starben. Der Schlamm enthielt unter anderem ungefähr fünfzig Tonnen hochgiftiges Arsen. Die ausgestossene Menge an Gift, gemessen in potenziell tödlichen Dosen, war beim Schlammunglück in Ungarn etwa zehnmal grösser als beim Reaktorunglück in Fukushima. All das zeigt, dass der Bruch des Rückhaltebeckens viel gravierendere Auswirkungen für Mensch und Umwelt hatte als das AKW-Unglück in Japan. Während aber nach der Atomhavarie der Ausstieg aus der Kernenergie sofort zum Thema wurde, verlangte nach dem Unglück in Ungarn niemand den Verzicht auf die Produktion von Aluminium.

(Axel Reichmuth – WELTWOCHE 10/12) mit freundlicher Genehmigung

Siehe auch:

» Zettels Raum: ein sehr lesenswerten Artikel um Thema finden Sie hier

» WELT: Die deutsche Atomhysterie ist welt weit verpufft

» Kritischer Hörer beim WDR 5-Tagesgespräch zu Fukushima (9.3.)

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