Wer sich im Skandal der öffentlichen Meinung widersetzt, wird mundtot gemacht oder, falls dies nicht möglich ist, ausgegrenzt. Das betrifft auch Journalisten. Ein Beispiel für die damit verbundenen Prozesse ist ein Interview von Simon Feldmer im Magazin des Deutschen Journalistenverbandes mit dem Chefredakteur der „Stuttgarter Zeitung“, Joachim Dorfs. Den Anlass bildete der geplante Abriss des Stuttgarter Hauptbahnhofs, den eine Reihe von einflussreichen Medien monatelang skandalisiert, die „Stuttgarter Zeitung“ aber gerechtfertigt hatte. Feldmer suggerierte mit ganzen Frageserien den Eindruck, Dorfs sei ein irregeleiteter Außenseiter, der der Zeitung wirtschaftlich geschadet und die Pressefreiheit eingeschränkt habe und folglich beruflich fehl am Platz sei. Nachdem er behauptet hatte, Gegner von Stuttgart 21 hätten im Internet die Kündigung ihres Abonnements der SZ dokumentiert, fragte er: „Wie viele Leser haben explizit wegen Ihrer Berichterstattung gekündigt?“ Nachdem Dorfs auf 600 verwiesen hatte, fragte er: „Wie kommen Sie auf diese Zahl? Es können doch viel mehr Leser gekündigt haben …?“ Nachdem Dorfs höhere Schätzungen zurückgewiesen hatte, fragte Feldmer höhnisch: „Sie haben angefangen, Leserkonferenzen zu organisieren. Wegen 600 Kündigungen?“ Nachdem Dorfs drauf hingewiesen hatte, dass die Zeitung solche Konferenzen schon viel früher veranstaltet hatte, wechselte Feldmer das Thema und suggerierte auf gleiche Weise eine Beschränkung der Pressefreiheit bei der „Stuttgarter Zeitung“. Im Kern handelt es sich bei Praktiken wie der erwähnten um Angriffe auf die Meinungsfreiheit. Sie zielen nicht auf die Etablierung, sondern auf die Unterbindung eines kritischen Diskurses.

Was sind die Ursachen der Intoleranz von Menschen, die sich selbst wahrscheinlich für tolerant halten? Ein Grund besteht darin, dass jeder Skandal auf dem absoluten Geltungsanspruch von Meinungen beruht. Die Skandalisierung folgt sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten, die der Psychologe Salomon Asch durch eine Serie von Experimenten aufgezeigt hat. Er ließ seine Testpersonen in mehreren Durchgängen die Länge einer Linie mit der Länge anderer Linien vergleichen. Eine der anderen Linien entsprach unverkennbar der Vergleichslinie, die restlichen unterschieden sich deutlich davon. Die Betrachter gaben ihre Urteile nacheinander laut ab. Die eigentliche Testperson urteilte als letzte, alle anderen waren Mitarbeiter von Asch, die nach einigen normalen Durchgängen übereinstimmend eine offensichtlich falsche Linie nannten. Dadurch sah sich die Testperson nun einer homogenen Mehrheit ausgesetzt. Obwohl das Urteil der Mehrheit offensichtlich falsch war, schlossen sich ihm drei Viertel der Testpersonen zumindest gelegentlich an. Der gleiche Mechanismus liegt, wie Elisabeth Noelle-Neumann mithilfe von repräsentativen Umfragen gezeigt hat, der Entstehung der öffentlichen Meinung zugrunde. Bei öffentlichen Kontroversen über moralisch geladene Themen verfällt die Minderheit in Schweigen oder passt sich der Mehrheitsmeinung an, weil sie die Isolation durch die Mehrheit fürchtet.

Auf die absolute Größe der Mehrheit kommt es bei den genannten Prozessen nicht an. Entscheidend ist ihre tatsächliche oder vermeintliche Geschlossenheit. So brach im Experiment der Druck der Mehrheit nahezu völlig zusammen, wenn sie nicht homogen war, weil einer der Mitarbeiter Aschs richtige Urteile abgab: In der Gewissheit, nicht alleine zu sein, vertraten die Testpersonen ihre eigene Sichtweise. Genau das darf bei einer Erfolg versprechenden Skandalisierung nicht geschehen. Deshalb müssen Andersdenkende, wenn man sie nicht überzeugen oder mundtot machen kann, intellektuell oder moralisch diskreditiert und dadurch gesellschaftlich isoliert werden.

Die Ächtung der Nonkonformisten hat weniger mit dem Inhalt ihrer Äußerungen zu tun als mit ihrer sozialen Rolle. Die Ächtung der Nonkonformisten dient der Sicherung des Überlegenheitsgefühls der Mehrheit sowie der Unterwerfung der Skandalisierten. Die Skandalisierten müssen, weil nur so die allgemeine Geltung der eigenen Sichtweise gesichert werden kann, isoliert werden. Dies erfordert, dass auch diejenigen, die ihre Isolation durchbrechen, diskreditiert werden. Deshalb weisen Skandale totalitäre Züge auf: Sie zielen auf die Gleichschaltung aller, weil die öffentliche Abweichung einiger den Machtanspruch der Skandalisierer und ihrer Anhänger infrage stellen würde. Die großen Skandale kann man deshalb als demokratische Variante von Schauprozessen betrachten. In beiden Fällen enthält die Anklage fast immer einen wahren Kern. Das Ziel besteht jedoch nicht darin, die Angeklagten nach rechtstaatlichen Regeln zu überführen, sondern sie und alle, die zu ihnen stehen, zu unterwerfen. Deshalb ruft im Skandal – anders als im Strafprozess – nichts größere Empörung hervor als die Weigerung der Angeklagten, ihre Schuld zu gestehen und die Unverfrorenheit von Nonkonformisten, sich zu den Skandalisierten zu bekennen.

Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger

zuerst erschienen in die WAMS vom 4.3.12 mit freundlicher Genehmigung

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